Ein teilnehmender Beobachter

AUTOBIOGRAFIE-FIKTION Schatten der stalinistischen Sowjetgeschichte: „Der Sprengprofessor“ und andere Geschichten von Victor Zaslavsky

VON DETLEV CLAUSSEN

Der Buchmarkt zerreißt die schriftstellerische Produktion in Literatur und Sachbuch. Eine Unterscheidung in wissenschaftliche und belletristische Bücher hätte auch etwas für sich; doch selbst in der Musik werden die Grenzen zwischen U- und E-Musik verwischt. Es gibt Autoren, die auf unterschiedlichen Klaviaturen spielen können; es gibt zudem unverwechselbare intellektuelle Handschriften, die in jedem Genre wiederzuerkennen sind. Eine solche müssen wir Victor Zaslavsky zubilligen. Sein posthum veröffentlichtes Buch „Der Sprengprofessor“ überrascht Leser, die nur seine letzte Studie „Klassensäuberung. Das Massaker von Katyn“ kennen.

Kein Satz ist überflüssig

Einen Erzähler von Geschichten, wie sie im „Sprengprofessor“ versammelt sind, hatte man nicht erwartet. Manche von ihnen erschienen auf Deutsch zuvor in der Zeitschrift Freibeuter, die der Wagenbach Verlag 1999 mangels Printleserschaft einstellen musste.

Überhaupt Wagenbach. Ihm verdanken wir Victor Zaslavskys deutsche Existenz. 1982 veröffentlichte Klaus Wagenbach Zaslavskys bahnbrechende Studie „In geschlossener Gesellschaft. Gleichgewicht und Widerspruch im sowjetischen Alltag“, eine Art Untergrundsoziologie der Sowjetunion, die er vom Ende der sechziger Jahre an unter abenteuerlichen Bedingungen herstellte. 1975 verließ er die Sowjetunion und lebte eine interkontinentale Doppelexistenz in Nordamerika und Italien, bis er 2009 überraschend verstarb. 1937 war Zaslavsky im damaligen Leningrad geboren, wurde 1941 aus der von Deutschen belagerten Stadt evakuiert und verlebte seine Kindheit im Ural.

Im ausgehungerten Leningrad wäre er sicher umgekommen. Wie ein Schatten zieht die Sowjetgeschichte durch alle seine Erzählungen, die einen autobiografischen Kern besitzen. Aber der Autor wird zu einem teilnehmenden Beobachter, der erzählt. Dieser Gestus hat schon seine sowjetsoziologischen Studien lesenswert gemacht, die keine akademische Langeweile aufkommen lassen. Man verschlingt die Erzählungen geradezu und fragt sich am Ende wie ein Süchtiger: Gibt es denn nicht noch mehr davon?

Das Geheimnis von Zaslavskys Anziehungskraft: Er kann erzählen. Seine wissenschaftliche wie seine literarische Prosa, an Tschechow geschult, arbeitet mit sparsamen Mitteln; kein Satz ist überflüssig, nichts dient dem Narzissmus des Autors, alles steht im Dienst der Geschichte. Zaslavskys Geschichten geben noch einmal Einblick in die siebzigjährige Sowjetzeit, deren unermessliche Schrecken sich an Spuren im Lebensalltag ablesen lassen. Die Dramatik der Lebensschicksale wird niemals dick aufgetragen, sie vermittelt sich indirekt. Niemand kann vor niemandem wirklich sicher sein, so die destruktive Logik des Verdachts.

Als schlimmster Schrecken wird erlebt, wenn man mit niemand mehr reden kann, weil von gemeinsamem Wissen Lebensgefahr droht. Lebenserfahrung wird in einer geschlossenen Gesellschaft zu einem wertvollen Schmuggelgut, das nach Regeln der Konspiration weitergegeben wird. Wem kann man noch vertrauen, wenn aus einem Verdienst von gestern das Todesurteil von morgen werden kann?

Zaslavsky erzählt seine sowjetische Lebensgeschichte von Anfang an. Sie beginnt mit Nadeschda, Hoffnung, ein populärer Frauenname, kein Prinzip. Die Dorfbewohnerin aus dem Ural wagt es, die evakuierten Leningrader Juden aufzunehmen, Victors Tante, ihren Sohn und den vierjährigen Erzähler selbst.

Antisemitismus und Angst vor Willkür vergiften alle Geschichten von den grausigen Zeiten während des Krieges, während seiner Schulzeit im Spätstalinismus und während seiner Lehr- und Wanderjahre in der Stagnationsperiode, der Breschnew-Ära, in der Zaslavsky, Geologe und Untergrundsoziologe, die Sowjetunion verlässt. Mit ihm durchlebt der Leser die Abenteuer der Sowjetzivilisation, die der unbestechliche Wissenschaftler in seinen Studien prägnant beschrieben hat. Er konnte es nur so gut, weil er eine Fähigkeit zum Erzählen entwickelt hat, die nichts erfinden muss, um fesselnd zu sein.

Victor Zaslavsky: „Der Sprengprofessor. Lebensgeschichten“. A. d. Ital. bzw. Russ. v. Rita Seuß u. a. Wagenbach Verlag, Berlin 2013. 144 S., 15,90 Euro