Entspannung am Taksim-Platz

TÜRKEI Ministerpräsident Erdogan macht nach Verhandlung mit Demonstranten weitreichende Zusagen. Gericht soll über umstrittene Parkbebauung entscheiden

■ Lizenz: Dem regierungskritischen türkischen Fernsehsender Hayat TV („Leben TV“) droht die Schließung. Bis Mittwoch will der Oberste Rat für Hörfunk und Fernsehen in der Türkei (RTÜK) entscheiden, ob der Sendebetrieb eingestellt wird.

■ Offizieller Grund: Die Behörde sagt, dem seit sechs Jahren arbeitenden Hayat TV fehle die nationale Sendelizenz.

■ Hintergrund: Hayat TV ist einer der wenigen Sender, die ausführlich über die Gezi-Park-Proteste berichtet hatten. RTÜK hatte die Ermittlungen aufgenommen unter Berufung auf vermeintliche „Beschwerden aus der Bevölkerung aufgrund seiner Sendungen zum Thema Gezi-Park“. (pab)

AUS ISTANBUL DENIZ YÜCEL
UND JÜRGEN GOTTSCHLICH

Im Streit über den Gezi-Park in Istanbul hat der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan das dort geplante Bauprojekt vorerst gestoppt. Nach Verhandlungen in der Nacht zu Freitag mit Vertretern der Protestbewegung teilte Vizeregierungschef und Regierungssprecher Hüseyin Celik mit, die umstrittenen Bebauungspläne würden bis zu einer Gerichtsentscheidung ausgesetzt. Das Protestbündnis begrüßten die Entscheidung.

Noch am Donnerstag hatte es nach einer weiteren Eskalation ausgesehen. Ministerpräsident Erdogan hatte ultimativ verkündet, die Polizei werde den seit zwei Wochen besetzten Park innerhalb von 24 Stunden endgültig räumen. Tausende Menschen waren dennoch wieder in den Park und auf den daneben liegenden Taksim-Platz geeilt.

Am Donnerstagabend meldeten dann türkische Fernsehsender, Erdogan wolle nun doch direkt mit Vertretern der Bürgerinitiativen vom Gezi-Park sprechen. Bis diese in die 350 Kilometer entfernte Hauptstadt Ankara geflogen waren, ging es auf Mitternacht zu. Die Verhandlungen dauerten bis fast 4 Uhr früh. Dann traten Regierungssprecher Hüseyin Celik und Tayfun Kahraman, ein Vertreter der Taksim-Plattform, vor die wartenden Journalisten. „Wir hatten ein positives Gespräch“, sagte Kahraman, „der Ministerpräsident ist uns entgegengekommen.“

Konkret hat Erdogan versprochen, den Gezi-Park unangetastet zu lassen, bis das zuständige Gericht endgültig über die Baupläne entschieden hat. Der Plan, in dem Park eine Kaserne aus der Zeit des Osmanischen Reichs wieder aufzubauen und darin ein Einkaufszentrum unterbringen, war der Auslöser der Proteste gewesen. Bisher hat das Gericht einen vorläufigen Baustopp erlassen. Es gibt gute Chancen, dass der Plan aus städtebaulichen Gründen verboten wird. Sollte das Gericht aber grünes Licht geben, soll die Bevölkerung Istanbuls per Plebiszit über die Zukunft des Parks entscheiden.

Erdogan sicherte außerdem noch einmal zu, dass gegen Polizisten ermittelt wird, die über den erlaubten Rahmen hinaus Gewalt angewendet hätten. Die linksnationalistische Zeitung Aydinlik berichtete gestern, ein Polizist der für den Tod eines Demonstranten verantwortlich gemacht wird, habe seinen Vorgesetzten gedroht, über deren Anweisungen auszupacken, wenn man ihn ausliefern würde.

Auf dem Taksim-Platz fand am Freitag zunächst eine Gedenkveranstaltung für die fünf Todesopfer – darunter ein Polizist – der Protestwochen statt. Bei Redaktionsschluss diskutierten rund 300 Menschen im Gezi-Park darüber, ob sie den Protest beenden sollen. Einige wollen weiter demonstrieren, bis die Regierung zurücktritt. Andere meinten, die Bewegung habe Erfolge erzielt, von denen vor wenigen Wochen niemand zu träumen gewagt habe. Deshalb solle man jetzt nach Hause gehen. „Wir können den Park bei Bedarf jederzeit neu besetzen“, meinte einer der Plenumsteilnehmer.

Nächtliche Gruppentherapie

Schon mit Beginn der nächtlichen Gespräche in Ankara hatte sich die Lage am Taksim-Platz entspannt. Um Mitternacht herrschte Volksfeststimmung. Die Polizei, die am Dienstag den Platz gestürmt hatte, hatte sich an den Rand zurückgezogen. Nur rund 30 Beamte bewachten das Denkmal der Republik in der Mitte. Sie trugen kurzärmelige Hemden, keine Helme. Demonstranten verwickelten sie in Gespräche. Gruppentherapie auf dem Taksim-Platz.

„Darf man als Mitglied des Mobilen Einsatzkommandos so eine Wampe haben?“

DEMONSTRANT FRAGT POLIZISTEN

Ob er schon viele Verletzte unter seinen Kollegen gesehen habe, fragte ein Teenager einen Polizisten. „Ja“, antwortete dieser zurückhaltend. „Ehrlich gesagt habe ich auf unserer Seite mehr ernsthafte Verletzungen gesehen als auf eurer Seite.“ Die Demonstranten waren ehrlich interessiert. Es entwickelte sich ein freundliches Gespräch.

Anderswo ging es spöttischer zu: „Darf man als Mitglied des Mobilen Einsatzkommandos eigentlich so eine Wampe haben?“, fragte jemand einen Beamten, der mit Ende 20 zu den älteren gehört. „Immerhin müssen Sie schnell und mobil sein, das steht ja quasi in Ihrem Jobtitel. Geht das denn gut, wenn man zu viel Bauch hat?“ „Das ist schon okay. 90 Prozent aller türkischer Polizisten haben eine kleine Wampe, das schränkt uns nicht ein“, antwortete der Polizist.

Dann wollte ein Vollbartträger wissen, wann die Polizei den besetzten Park räume: „Sagen Sie uns das doch bitte, dann brauchen wir uns nicht umsonst jede Nacht hier um die Ohren schlagen.“ Die Umstehenden lachten, auch der angesprochene Polizist.

Schließlich fragte eine etwa 40-Jährige: „Warum hassen Sie uns so?“ „Wir hassen Sie nicht“, antwortete ein Polizist. „Warum schießen Sie dann aus nächster Nähe einer kleinen Frau wie mir Pfeffergas ins Gesicht? Ich bin Lehrerin, ich unterrichte Ihre Kinder, seien Sie bitte nicht so gewalttätig.“ Der Polizist lächelte verlegen. Und die Lehrerin sagte fast versöhnlich: „Wenn Sie den Befehl haben, das Pfeffergas einzusetzen, dann schießen bitte nur die Hälfte. Glauben Sie mir, das ist immer noch viel.“

Argumente SEITE 10 sonntaz Kultur SEITE 23