Mündige Sportler gesucht

OLYMPIA Politiker und Sportler weisen Forderungen nach Boykott der Spiele von Sotschi zurück. Kritik an Russlands homophoben Gesetzen solle man lieber vor Ort üben

„Wenn in einer Zeit, in der wir das Fehlen von Vorbildern für unsere Kinder beklagen, kein Nationales Olympisches Komitee es wünscht, dass die verfassten Grundsätze des Olympischen Sports von den Wettbewerbern und Funktionären in Sotschi deutlich hörbar und sichtbar zum Ausdruck gebracht werden, kann ich das nicht verstehen“

JOHN AMAECHI, EX-BASKETBALLER

VON ANDREAS RÜTTENAUER

Das Tribünen waren nicht gerade gut gefüllt, als Russlands Präsident Wladimir Putin am Samstagabend die Leichtathletik-WM im Luschniki-Stadion zu Moskau eröffnete. Ein etwas trauriger Auftakt war das für die Imageoffensive des Landes, das sich als Ausrichter von sportlichen Großereignissen so gerne im Licht der Weltöffentlichkeit sonnt. Die nächsten ganz großen Stationen in dieser Kampagne des nationalen Marketings sind die Olympischen Winterspiele, die im Februar in Sotschi stattfinden werden, und die Fußball-WM 2018. Doch schon jetzt ist absehbar, dass das Event in Sotschi zu einem Imagedesaster werden könnte. Beinahe überall in der Welt wird gegen die neuen homophoben Gesetze protestiert, die es verbieten, vor Minderjährigen das Thema Homosexualität auch nur anzusprechen.

Längst hat sich eine Boykottbewegung formiert, die auf unterschiedlichen Plattformen im Internet Unterschriften sammelt. Mehrere hunderttausend Menschen haben bereits dafür unterschrieben, die Spiele zu boykottieren. Als der britische Schauspieler und Entertainer Stephen Fry, der als Aufsichtsratsmitglied des englischen Erstligisten Norwich City auch im Sport engagiert ist, forderte, der Schwarzmeerstadt die Austragung der Spiele zu entziehen, sah sich sogar der britische Premierminister David Cameron genötigt, via Twitter auf die Forderung zu antworten. „Wir können Vorurteile besser bekämpfen, wenn wir teilnehmen, als wenn wir die Winterspiele boykottieren“, lautete sein Posting am Samstag. Tags zuvor hatte sich schon US-Präsident Barack Obama auf einer Pressekonferenz gegen eine derart weitreichende Protestaktion ausgesprochen. Auf Boykottforderungen konservativer Politiker, die das Fernbleiben der amerikanischen Olympiamannschaft von den russischen Spielen fordern, um gegen die Gewährung von Asyl für den ausgestiegenen US-amerikanischen Agenten Edward Snowden zu protestieren, ging der US-Präsident nicht ein. Dies hatte Lindsey Graham gefordert, der republikanische Senator von South Carolina, und dabei Putin-Land mit Nazi-Deutschland verglichen: „Wenn Sie in der Zeit zurückgehen könnten, würden Sie es Adolf Hitler erlauben, die Olympische Spiele in Deutschland auszurichten?“

Auch Stephen Frys offener Brief, der an Cameron und das Internationale Olympische Komitee gerichtet war, hatte vor allen deshalb für Aufsehen gesorgt, weil der Schauspieler darin einen Vergleich der russischen Gesetze mit der Rassengesetzgebung des nationalsozialistischen Deutschland gezogen hatte: Aus Schwulen seien „Sündenböcke“ gemacht worden – „genauso wie Hitler es mit den Juden gemacht hat.“

John Amaechi, der früher in der US-Profiliga NBA Basketball spielte und sich nach dem Ende seiner Karriere als schwul geoutet hat, hat mit einem eigenen offenen Brief auf das Schreiben von Fry reagiert. Er ist gegen einen Boykott, auch wenn er wie Fry „schreckliche Parallelen“ der russischen Gesetze zu den deutschen Rassengesetzen von 1935 sieht. Sein Brief richtet sich an die Athleten. „Als ehemaliger Sportler weiß ich“, schreibt er, „dass das, was wir im Training und im Wettkampf tun, nur einen kleinen Teil unserer Arbeit ausmacht.“ Für die Fans seien die Sportler Vorbilder, sie würden alles, was man äußere, genauestens verfolgen. Und so sei es die Aufgabe der Sportler, zu verstehen, dass der Sport politisch ist. Er fordert die Athleten dazu auf, in dem Bewusstsein nach Sotschi zu reisen, dass die Spiele vor dem Hintergrund der Ausbeutung von Fremdarbeitern stattfinden, dass Umweltaktivisten und Journalisten, die über deren Arbeit berichten, drangsaliert werden, dass 25 Milliarden Euro Steuergelder verschwunden sind und dass junge Homosexuelle gequält werden, ohne die Täter dafür zu belangen. Amaechi fordert die Sportler dazu auf, das „Podium als Plattform zu benutzen“, so wie es 1968 die Sprinter Tommie Smith und John Carlos taten, die während der Siegerehrung bei den Sommerspielen von Mexico City die geballten Fäuste in den Himmel reckten, um ihre Solidarität mit der Black-Power-Bewegung zu bekunden.

Den beiden wurden danach die Medaillen vom IOC wieder weggenommen, weil sie gegen die Regel verstoßen hatten, die politische Äußerungen während der Spiele verbietet. Um nicht wieder in eine derartige Situation zu kommen, laufen hinter den Kulissen Gespräche der Olympier mit der russischen Regierung, deren Ziel die Aussetzung der homophoben Gesetze für die Zeit der Olympischen Spiele zum Ziel haben. Als „stille Diplomatie auf höchster Ebene“ bezeichnete das Ng Ser Miang, IOC-Mitglied aus Singapur und einer der Kandidaten, wenn im September ein Nachfolger von Jacques Rogge an die IOC-Spitze gewählt wird. Wie weit man dabei ist, wird man vielleicht am Donnerstag erfahren, wenn Russlands Sportminister Witali Mutko am Rande der Leichtathletik-WM eine Pressekonferenz gibt.