Das fehlende Recht auf legale Abtreibung

Der europäische Traum von einem rechtlich fortschrittlichen Staatenbund gleicht für viele Europäerinnen eher einem mittelalterlichen Albtraum. Einzelne Staaten behalten sich bis heute die Souveränität im Abtreibungsrecht vor und beschneiden Freiheits- und Persönlichkeitsrechte, indem sie Schwangerschaftsabbrüche illegalisieren.

Der Fall Alicja Tysiąc sollte sich tief ins EU-Gedächtnis eingeschrieben haben. Die Polin hatte 2000 aufgrund einer drohenden Erblindung bei einer Geburt von ihrem Recht auf Abtreibung Gebrauch machen wollen – was ihr von Ärzten untersagt wurde. Die Folge war eine Schwerstbehinderung. 2007 verhandelte der Europäische Gerichtshof den Fall, woraufhin der polnische Staat zu einer Geldstrafe verurteilt wurde.

Ein einheitliches europäisches Recht auf legale Abtreibung, damit der Weg nach Straßburg überflüssig wird, ist bis heute nicht verabschiedet. In Berlin kamen nun Pro-Choice- Aktivistinnen zusammen, um im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Reclaim Feminism“ die „Strategien zur EU-weiten Legalisierung von Abtreibung“ zu diskutieren. Mit Agata Chełstowska (Polen) und Stephanie Lord (Irland) waren zwei Aktivistinnen eingeladen, die aus Ländern kamen, in denen die katholische Kirche die Debatte um Abtreibung maßgeblich bestimmt. 1993 wurde in Polen ein restriktives Gesetz zur Geburtenregelung eingeführt, in dessen Folge Abtreibung illegalisiert wurde. Die Privatisierung des Gesundheitssektors nach 1989 habe die illegale Abtreibungsindustrie aufblühen lassen. Nach offiziellen Angaben aus dem Jahr 2005 haben 225 Frauen die Schwangerschaft abgebrochen, die Dunkelziffer liege aber bei 200.000, sagte Chełstowska.

Irlands Antiabtreibungsgesetz hingegen sei ein Relikt aus der viktorianischen Zeit, genauer von 1861, erklärte Stephanie Lord. Zwar gebe es auch hier Ausnahmen, doch selbst dabei komme es äußerst selten zu einem Abbruch der Schwangerschaft. Nachdem der irische Zoll per Internet bestellte Abtreibungspillen großflächig abgefangen habe, sei ihr Bezug heute kaum mehr möglich.

Die Fälle zeigen, dass noch viel Engagement nötig sein wird, um eine sichere, günstige und legale Abtreibung EU-weit zu ermöglichen. Vor allem muss Druck auf nationaler Ebene erzeugt werden. Wegweisend ist der im vorigen Jahr in vielen Städten Polens gezeigte polnische Dokumentarfilm „Underground Women’s State“, in dem Frauen über ihren Abbruch berichten. Zumindest ist damit die öffentliche Debatte angeregt. PHILIPP GOLL