Für das schweifende Auge

VERTRAUEN Die Ausstellung „squatting. erinnern. vergessen. besetzen“ in der Temporären Kunsthalle setzt auf den mündigen Betrachter

Wenn dieses Beispiel Schule macht, können in Zukunft Ausstellungen wieder mehr Freude machen

Die Schlossfreiheit besetzen, das wäre doch mal was! Von dieser Idee waren offensichtlich die Kuratoren der Ausstellung „squatting. erinnern. vergessen. besetzen“ in der Temporären Kunsthalle hellauf begeistert. Doch an die im Titel herbeigerufenen seligen Hausbesetzer-Zeiten knüpft zunächst lediglich die schwarz-rote Farbgebung im Café des vorläufigen Kunstquaders an.

Die Begriffe Squatting und Besetzen werden von den Kuratoren Tilo Schulz und Jörg van den Berg zwar benutzt. Sie sind dabei aber ihrer genuin politischen Dimension beraubt. „Squat bedeutet sich hinhocken, den Blick schweifen lassen. Und besetzen heißt, einen Platz einzunehmen. Wir besetzen mit den 22 Kunstwerken der Ausstellung diesen Platz“, erklärt Tilo Schulz. Der Leipziger Künstler und Kurator wirft sogar einen kleinen kunstweltspezifischen Molotowcocktail. „Wir wollen den Kunstwerken wieder ihren Platz zurückerobern. Die Werke sollen für sich sprechen. Ihre Wirkung soll nicht durch Begleittexte gesteuert werden. Die Zuschauer sollen dem eigenen Schauen wieder vertrauen“, erläutert er sein Vorhaben.

Absage Thesenillustration

Schulz holt das Kuratieren wieder auf den Boden einer genuinen Organisation des Blicks zurück. Er erteilt der landläufigen Praxis, ein paar schicke Thesen im Katalog auszubreiten und sie dann – meist eher schlecht als recht – mit Werken zu bebildern, eine Absage. Das ist klasse. Wenn sein Beispiel Schule macht, wird man sich in Zukunft vielleicht wieder mit mehr Freude in Ausstellungen selbst begeben und weniger sein Heil in der Lektüre der begleitenden Essays suchen müssen.

Denn wenn man Schulz und van den Berg einmal den begrifflichen Etikettenschwindel mit dem Squatting verziehen hat und sich tatsächlich in die Ausstellung „hineinhockt“, erfasst das schweifende Auge reizvolle Konstellationen. Da ist etwa der massige, aus alternden Rigipsblöcken zusammengesetzte Kubus von Franka Hörnschemeyer. Sehr abweisend wirkt das gewaltige Objekt – und formuliert doch auf ganz eigene Art das Sujet der Berliner Brandmauern weiter, die der Fotograf Michael Schmidt in den 80er-Jahren auf Schwarz-Weiß-Film bannte.

Konnten die räudigen steinernen Mauern noch als Zeugen längerfristiger historischer Prozesse gelten, so ist das temporäre Baumaterial von Hörnschemeyer durch zwei Jahrzehnte Lagerung und Benutzung auch ein wenig aufgeladen und gibt so einen Hinweis auf die Historisierung des nur Vorläufigen. Zarte, wenngleich schmerzliche Erinnerung evoziert der kahle Ast, an den Bojan Sarcevic eine Strähne blonden Haars geklebt hat und der neben dem Rigips-Monument in den Raum ragt.

Humboldts Wanderungen

Der Blick wandert weiter zu einer Bergwelt-Installation von Simon Wachsmuth aus Biedermeiermöbeln, einem Bericht über die Chimborazo-Ersteigung Alexander von Humboldts und einer Gruppe von Wanderstöcken, deren filigrane Struktur die des großen Holzgerüstes aufgreift, das Heike Kati Barath auf eine Leinwand gesetzt hat.

Von Wachsmuth stammen auch zwei Absperrgitter, die den Blick auf große Texttafeln verstellen. Die Gitter könnten durch Ausschreitungen verbogen sein; auf die Tafeln hat Thomas Locher Auszüge der UN-Konvention gegen Folter aufgebracht. „Signature“ wurde dabei ohne „n“ geschrieben; man darf nun spekulieren, ob ein Schreibknecht die Anerkennung der Resolution unterwandern wollte, das „Sinnieren“ dem „Signieren“ vorzog oder die Kategorie der Sünde (Sin) in das Dokument einzuschmuggeln gedachte. Neben dieser bemerkenswerten Arbeit markiert Olaf Nicolai mit einem roten Kreuz einen Ort, an dem Asyl gestattet werden solle.

Leere nistet sich ein

Als beherrschendes Thema der Ausstellung kristallisiert sich allerdings die Leere heraus. Sie durchweht Annika Erikssons Video „Maximum Happiness“ über einen aufgegebenen Sozialwohnkomplex in Sheffield und ist in Selja Kameric’ Aufnahmen der verlassenen Hafenstadt Folkestone mit den Händen zu greifen. Sie taucht in Sven Johnes Geschichten über einsame Menschen auf und in dem Haldensleben-Pavillon von Manfred Pernice. Mit Ewigkeitsgestus krallt sie sich an den zerfetzten Mumien von Antje Majewski fest.

Weil die Leere ein Zustand ist, der oft dem (Haus-)Besetzen vorausging, bezieht sich die Ausstellung sogar wieder ein wenig auf ihre im Titel geweckten Erwartungen. Und die dröge-didaktische Art, in der Schulz und van den Berg ihren Wahrnehmungsparcours in drei Teile mit drei separaten Eingängen trennen und die Zuschauer zum Umlaufen des Gebäudes zwingen wollen, erinnert fatal an manchen Dogmatiker und manchen sich formaljuristisch aufgebläht habenden Wichtigtuer vermeintlich basisdemokratischer Plena. Bei „squatting. erinnern. vergessen. besetzen“ ist also doch einiges dabei, was an Squatting erinnert und manches, was man in diesem Zusammenhang sehr gern vergessen hat. TOM MUSTROPH

■ „squatting. erinnern. vergessen. besetzen“. Temporäre Kunsthalle, Schlossplatz, bis 24. 5. 10, tgl. 11–18, Do. bis 21 Uhr