VON MAJA BECKERS (TEXT) UND PIERRO CHIUSSI (FOTOS)

„Nur mit Migranten bleibt Berlin ein interessantes gesellschaftliches Labor“

AUSTAUSCH Ethnologin Regina Römhild von der Humboldt-Universität über die neuen Migranten und wie sie die Stadt prägen

■ forscht zu Migration in urbanen Räumen. Sie ist Professorin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität.

taz: Frau Römhild, in der U-Bahn hört man Englisch, Spanisch, Französisch … Ist Berlin endlich international?

Regina Römhild: Nein, transnational.

Was ist der Unterschied?

Der Begriff „international“ führt in die falsche Richtung. Er steckt die Menschen noch in Kästchen, schön getrennt nach nationaler Herkunft, und das entspricht nicht mehr der Realität.

Wie sieht die aus?

Wenn jemand beispielsweise in Griechenland geboren ist und nach Berlin kommt, dann erweitert sich der Lebenshorizont nicht nur um eine griechisch-deutsche Dimension. Man kommt dann mit vielen anderen Migranten und Kulturen in Kontakt. Gleichzeitig bleiben die Beziehungen nach Griechenland bestehen und es entstehen neue in andere Länder, je nach den sozialen Netzen der betreffenden Person – dann lebt man in Berlin ein transnationales Leben. Leider empfinden wir das oft als Zerrissenheit, weil wir gelernt haben, in eindeutigen Kategorien der Identität zu denken. Aber mit Migration werden auch Identitäten und Kulturen mobil.

Ist das berlinspezifisch?

Nein, aber Berlin hat eine lange Geschichte als Migrationsmetropole und daher traditionell ein Image von Weltoffenheit. Zur Zeit der Teilung zog Westberlin, nach dem Mauerfall besonders Ostberlin auch eine von überall heranstürmende Alternativszene an, die dieses Image sehr mitgeprägt hat.

Ist das bloß Image?

Nein, da ist auch etwas dran. Für eine rein ökonomisch motivierte Migration wären andere Orte in Deutschland interessanter. Trotzdem kommen viele junge Europäer gerade deshalb nach Berlin, weil sie die Stadt als offenes, kreatives Gesellschaftslabor sehen. Sie leben dann oft sehr prekär, bleiben aber trotzdem.

Viele Migranten, die in den letzten Jahren kamen, sehen sich ausgerechnet Kritik von links ausgesetzt: Sie würden die Gentrifizierung anschieben.

Auch wenn die neuen Migranten oft aus europäischen Krisengebieten wie Italien, Spanien oder Griechenland kommen, werden sie anders wahrgenommen. Sie passen nicht in das Bild, das im offiziellen politischen Diskurs gezeichnet wird, wo beim Stichwort Migration sofort große „Problem“-Schilder aufleuchten und Integration gefordert wird. Als Migrant gilt in diesem Diskurs, wer an den sozialen Rändern der Stadt zu Hause ist, auch wenn das genauso für viele „Einheimische“ gilt und auch wenn er oder sie längst schon hier geboren, also selbst „einheimisch“, ist. Gut ausgebildete Migranten aus dem – im weiteren Sinne – „Westen“ werden dem meist als Kosmopoliten, die uns bereichern, entgegengestellt und gar nicht unter der Rubrik Migranten wahrgenommen.

Deshalb brauchen sie keine Solidarität?

Es zeigt sich hier eine Haltung, die dazu neigt, die üblichen Ressentiments nur umzudrehen: Sie hat Sympathien für die als „Armutsflüchtlinge“ und als „Integrationsproblem“ diffamierten Migranten, was toll und wichtig ist, spielt aber die anderen – ich nenne sie mal sehr pauschal „weiße Migranten“ – als wohlhabend und für die Gentrifizierung verantwortlich dagegen aus. Dabei sind auch viele der europäischen Migranten in ihren Heimatländern mit den existenzbedrohenden Folgen der Krise und des Krisenmanagements in Europa konfrontiert. Die Gentrifizierung diesen Einwanderern oder den Touristen anzulasten, ist sowieso viel zu kurz gedacht.

Warum diese zweierlei Arten von Aufmerksamkeit?

Provokativ zugespitzt würde ich sagen, die Ressentiments gegen diese „weißen Migranten“ haben auch damit zu tun, dass sie einer linken, etablierten, urbanen Öffentlichkeit sehr viel näherkommen als alle anderen.

Näherkommen?

Na ja, es gibt durchaus eine problematische Tradition in der Linken, sich leichter mit Menschen zu solidarisieren, die nicht nebenan wohnen. Aber als Ethnologin plädiere ich dafür, dass wir uns mal wieder selbstreflexiv fragen: Fällt es uns leichter, uns für Menschen zu engagieren, von denen wir glauben, dass sie nicht denselben „europäischen“, sozialen Hintergrund haben? Und die wir deshalb als „bedürftige Andere“ sehen, die unsere Hilfe brauchen?

Egal wo man im Kulturbetrieb hinschaut, hat man das Gefühl, ohne diese neuen Berliner wäre hier wenig los.

„Die europäischen Krisenflüchtlinge regen auch politische Diskussionen und soziale Bewegungen an“

Das stimmt. Alles, was hier kulturell „hergestellt“ wird, ist ohne Migration so gar nicht denkbar. Aber man muss auch immer fragen, wer zugelassen wird und mitwirken darf. Die neuen Berliner aus Rumänen und Bulgaren etwa erfahren gerade sehr viel Abweisung, obwohl auch sie heute mit einem EU-Pass kommen.

Viele neue Migranten wandern in die creative class ein. Wie verändern sie diese Szene?

Die „neuen“ Migranten schließen unmittelbar an die lange Geschichte migrantischer Interventionen in den Kulturbetrieb an. Wer „von außen“ kommt oder wem diese Position noch als Kind oder Enkel ehemaliger Einwanderer zugemutet wird, kann viele Dinge reflektierter und kritischer sehen. Shermin Langhoff, neue Intendantin des Maxim Gorki Theaters, hat deshalb den Begriff des postmigrantischen Theaters geprägt. Das ist kein migrantisches Theater, wo wir nur etwas über „die Türken“ erfahren. Postmigrantisch heißt: ein Ort, an dem ein anderer Blick auf unsere gemeinsame, längst durch Migration geprägte Gesellschaft geworfen wird.

Und in anderen Bereichen?

Vor allem die europäischen Krisenflüchtlinge regen auch die politische Diskussion und die sozialen Bewegungen hier an. Das hat man beim Occupy Camp in Berlin gesehen, bei dem sich viele Leute aus Spanien und Griechenland engagiert haben. Sie konfrontieren uns mit ihren Erfahrungen und wollen über Europa, die Krise und die Zukunft diskutieren. So wird diese Stadtgesellschaft herausgefordert, über Dinge nachzudenken, die über ihren lokalen Horizont hinausgehen. Nur so bleibt Berlin ein interessantes gesellschaftliches Labor, in dem über Alternativen nachgedacht wird.

INTERVIEW: MAJA BECKERS