sehnsuchtsorte etc.
: Hommage an Buenos Aires

Jeder Mensch hat Sehnsuchtsorte – Städte, von denen er träumt, lange bevor er sie zum ersten Mal betreten wird. Bei vielen ist dieser Ort New York, weil die Stadt zwischen East River und Hudson in Romanen und Filmen so erschlossen ist, dass fast kein Weg an dem sanften Paradox vorbeiführt: Man kennt New York, selbst wenn man es nicht kennt.

Bei mir heißt der Sehnsuchtsort Buenos Aires. Lange bevor ich mich zum ersten Mal am Flughafen Ezeiza in die Schlange vor der Passkontrolle einreihte, hatte ich Bekanntschaft mit dieser Stadt gemacht. Eine erste Begegnung fand bei Jorge Luis Borges statt – in der Erzählung „Der Tod und die Kompassnadel“. Darin entwarf Borges ein urbanes Labyrinth, dessen südlichen Punkt eine Vorstadtvilla bildete – dort lief der Protagonist, ein nicht allzu luzider Detektiv, seinem Mörder in die Arme, während die Sonne durch die gelben, grünen und roten Glasrhomben der Fenster fiel. Borges schrieb von „Spielkarte und Messer“, von „streunenden Straßen“; und er schrieb Gedichte über und an Buenos Aires: „hier bilden meine Schritte/ ihr unberechenbares Labyrinth./ Hier wartet der aschgraue Abend auf/ die Frucht, die ihm der Morgen schuldet;/ hier wird mein Schatten sich im ebenso/ eitlen letzten Schatten verlieren, leicht.“

Viele Jahre später schickte Wong Kar-wai zwei junge Schwule aus Hongkong nach Buenos Aires, und ich folgte ihnen fasziniert. „Happy Together“ hieß der Film, der von ihrer Entzweiung erzählt; ihr Sehnsuchtsort waren die Iguazú-Wasserfälle im Norden Argentiniens. Andere Filme kamen hinzu: Hugo Santiagos Vorstadt-Politthriller-Dekonstruktion „Invasión“ zum Beispiel oder Pablo Traperos Annäherung an einen korrupten Polizisten: „El Bonarense“ – auch er ein Bewohner der mythenumwobenen Vorstadt.

Als ich endlich die Stadt besuchte, in der die Sonne mittags im Norden steht und in der der Winter beginnt, wenn bei uns die Bäume in vollem Grün stehen, war alles noch besser, als ich es mir ausgemalt hatte. Es gab Hochhäuser und Straßenschluchten, den Geruch von hundert Jahren Stadt, es gab vom Fluss der Zeit und des Verkehrs blank geriebene Eisengitter und genug Programmkinos, um meinen Filmhunger zu stillen. Es gab enthusiasmierte junge Filmemacher und -macherinnen, es gab nicht minder enthusiasmierte Filmkritiker, und es gab Künstler, für die die Stadt ein großes Laboratorium war, ein Ort, in dem anderthalb Jahre nach dem Staatsbankrott alles in der Krise und deswegen alles veränderbar war. Buenos Aires war ein Ort, in dem jeder, den ich kennen lernte, Großeltern hatte, die von anderswo kamen: aus Sizilien und aus Syrien, aus Polen, aus Deutschland oder dem Baskenland – was eine vollkommen neue Sicht auf so etwas wie Heimat hervorbrachte. CRISTINA NORD