Die Gewalt nimmt zu

TÜRKEI Nachdem die Polizei friedliche Trauerkundgebungen angreift, werden Wahlkampfbüros der Regierungspartei überfallen

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Der Wahlkampf in der Türkei droht in Gewalttätigkeit abzugleiten. Die Bilanz der Proteste gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch und in der Nacht zum Donnerstag ist alarmierend: zwei Tote, Hunderte Verletzte und sechs Wahlkampfbüros der Regierungspartei AKP, die angegriffen und teilweise in Brand gesteckt wurden.

Eröffnet wurden die Gewalttätigkeiten von der Polizei. Nach der Beerdigung des 15-jährigen Berkin Elvan, zu der sich in Istanbul mehr als hunderttausend Menschen versammelt hatten, griff die Polizei nach Aussagen von Augenzeugen den sich auflösenden Trauerzug ohne Vorwarnung an. „Geradezu überfallartig“, berichteten Beteiligte anschließend, sei die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern über sie hergefallen. „Hier liegen stark blutende Demonstranten auf dem Boden“, schrie eine Fernsehreporterin in ihr Mikrofon. Die Angriffe der Polizei waren nicht auf Istanbul beschränkt. In Ankara ging die Polizei schon mit Wasserwerfern gegen Teilnehmer einer Trauerkundgebung vor, als in Istanbul die Massen noch friedlich vor dem Friedhof versammelt waren.

In mindestens zehn weiteren Städten gab es Kundgebungen für Berkin Elvan. Selbst die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu sprach von mehr als einer Million Teilnehmern landesweit.

Bei den Todesopfern handelt es sich um einen 29-jährigen Polizisten und einen 22-jährigen Mann. Der Polizist kam in der osttürkischen Stadt Tunceli ums Leben. Nach offiziellen Angaben starb er an einem Herzanfall. Türkische Medien berichteten allerdings, die Herzattacke sei durch Tränengasschwaden ausgelöst worden.

Der Tod des jungen Mannes im Istanbuler Bezirk Beyoglu unweit des Taksimplatzes wurde nach offiziellen Berichten bei einer Auseinandersetzung zweier verfeindeten Gruppen durch einen Schuss verursacht. Die Polizei war nicht zugegen. Zeugen berichteten, Anhänger der AKP und der rechtsradikalen MHP seien aufeinander losgegangen. Regierungsnahe Zeitungen behaupten, der junge Mann sei von einer militanten linksradikalen Gruppe erschossen worden.

Nicht nur die AKP beklagte, dass ihre Wahlbüros angegriffen worden seien. Die oppositionelle CHP sagt seit Tagen, ihre Wahlplakate würden systematisch zerstört. Viel schlimmer ergeht es der kurdischen BDP und der mit ihr assoziierten linken HDP.

Am Wochenende wurde in der Mittelmeerstadt Fethiye ein Wahlkampfbüro der HDP von einer aufgehetzten Menge angegriffen. Unter Beteiligung des örtlichen Bürgermeisters zog der Mob zu dem Büro, riss das Plakat der HDP herunter und hisste eine türkische Flagge. Die Mitglieder der HDP konnten rechtzeitig fliehen. Zuvor hatten schon rechte Gruppen Auftritte von HDP-Kandidaten am Schwarzen Meer verhindert. Politische Beobachter befürchten, dass es zu weiteren Attacken kommt, wenn Erdogan seine Anhänger nicht nachdrücklich zur Ruhe aufruft.