Reisen mit den Dämonen

FAMILIENGEHEIMNIS Es war einmal in Galizien: „Katzenberge“ von Sabrina Janesch beginnt mit melancholischem Zauber, bleibt aber zum Glück keine sentimentale Reise

Frühmorgens, irgendwo in Schlesien. Nebel hängt in den Katzenbergen, zwischen den Dörfern Osola und Bagno liegen die Kröten winterstarr im Morast. Nele Leibert, Journalistin aus Berlin, wird durch den Tod ihres Großvaters jäh in diese vergessene Welt katapultiert. Neles polnische Mutter und ihr deutscher Vater, deren Ehe immer noch missbilligt wird, fahren nach der Beerdigung sofort wieder zurück nach Deutschland. Nele, die Halbdeutsche, bleibt. Und macht sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihres geliebten „Djadjo“. Ein dunkles Familiengeheimnis führt sie bis nach Galizien, in die heutige Ukraine.

Schon auf den ersten Seiten entfaltet Sabrina Janeschs Roman „Katzenberge“ einen melancholischen Zauber. Der akazienbewachsene Friedhof, das windschiefe Gehöft, die Familienfeier, auf deren Höhepunkt Onkel Szymek, betrunken vom Weinbeerenschnaps, sich die Kartoffelsalatschüssel auf den Kopf setzt und deklamiert: „Sattel das Pferd, wir reiten zurück in die Ukraine, nach Galizien!“ Galizien, hinterster Zipfel der Donaumonarchie. Sofort verliert man sich im 19. Jahrhundert, denkt an die Romane von Joseph Roth, an Schmuggler und Offiziere, die in den Sümpfen von Brody dem Zerfall des Habsburgerreichs entgegendämmern.

Gut, dass „Katzenberge“ mehr ist als eine sentimentale Reise in die Vergangenheit. Neles Weg nach Osten, auf dem sie sich immer mehr von ihrem Berliner Leben samt Redakteursjob und Ehemann entfremdet, läuft ein zweiter Zeitstrahl entgegen: die Geschichte des Großvaters. Stanislaw Janetzko gehört der polnischen Volksgruppe in Galizien an, die nach der Westverschiebung Polens 1945 ins heutige Schlesien vertrieben wurde. Diese erzwungene Reise westwärts hat ganz und gar nichts Romantisches. „Wir wussten nicht, wohin wir fahren, sagte Großvater, wohin sie uns bringen würden. Einer der jüngeren Männer im Waggon habe gemurmelt, dass es nun vorbei sei, jetzt bringe man sie dorthin, wohin sie auch die Juden gebracht hatten. Es gäbe gar kein Schlesien. Erfunden hätten sie es: ein Lager namens Schlesien.“

Geschickt hat Sabrina Janesch die beiden Zeitstränge verflochten. Während Nele in die Vergangenheit vordringt, suchen Stanislaw Janetzko und eine Handvoll Bauern aus dem Dorf eine Zukunft in den verlassenen Höfen von Deutschen, holen Frauen und Kinder nach und kämpfen mit Dämonen. Der Glaube an Feld-, Wald- und Wiesenteufel, alltäglich zu Lebzeiten des Großvaters, dringt als Echo in die Welt der Enkelin ein. Die gehörnten, gefiederten oder behuften Kreaturen werden zur Chiffre für die Schatten der Vergangenheit: „In meinem Kopf hörte ich den Tonfall, mit dem Djadjo sagen würde: Mädchen, kämpf mit deinen eigenen Dämonen. Mir fiel erst jetzt, nach seinem Tod, die Antwort ein: Was wenn Dämonen, wie Sprache oder Land, vererbbar sind?“

Im Lauf des Buches gewinnt die Vergangenheit allmählich die Überhand, die sorgsam konstruierte Geschichte gerät in Schieflage. Da weiß man nun alles über das Geheimnis des Großvaters. Aber man erfährt nicht, ob Nele ihren gefühlskalten Ehemann am Ende zum Teufel jagt. Oder warum sie ihn überhaupt geheiratet hat. Die deutsch-polnische Gegenwart der Nele Leibert bleibt unkonkret neben dem Schicksal des Stanislaw Janetzko. Das aber ist so kraftvoll und poetisch erzählt, dass man die Röcke von Günter Grass’ kaschubischer Großmutter Anna von weitem rascheln hört. Keine schlechte Reminiszenz für einen Roman, der sich mit einem unbekannten Stück Vertreibungsgeschichte befasst.NINA APIN

Sabrina Janesch: „Katzenberge“. Aufbau Verlag, Berlin 2010, 304 Seiten, 19,95 Euro