Eine Stunde Leben auf dem Lande

Klare Bäche fließen durch saftige Wiesen, Trecker tuckern, die Dorfbewohner halten Klönschnack und akzeptieren sogar Zugezogene mit langen Haaren. Der Lokaljournalist und Hobbyfilmer Tommy Alles hat eine Dokumentation über seine norddeutsche Wahlheimat Agethorst gedreht

von INKEN SCHRÖDER

Als der gebürtige Düsseldorfer vor fünf Jahren in die 200-Seelen-Gemeinde Agethorst zog, kannte er zwar das norddeutsche Landleben – zum Ort selbst hatte er keinen Bezug. „Wir haben ein Haus zur Miete gesucht“, sagt Tommy Alles. Wir, das sind er selbst, seine Lebensgefährtin und vier Kinder, von denen zwei mit in Agethorst wohnen – drei Kinder hat sie mit in die Beziehung gebracht, eines er. Und obwohl es ihn „eher zufällig hierher verschlagen hat“, sagt Alles, während er sich eine Selbstgedrehte anzündet und die langen Haare zum Pferdeschwanz zusammenfasst, „fühl’ ich mich heute bestens integriert!“

Und das entgegen der landläufigen Meinung, als Zugezogener finde man keinen Anschluss in einem Dorf, wo häufig noch eher in Familiengenerationen als in Jahren gedacht wird. Besonders seit Alles vor zwei Jahren aus dem Neubaugebiet direkt ins Zentrum gezogen ist, in die alte Meierei, hat er ständig Kontakt zur angestammten Dorfbevölkerung. „Und wenn mir das Geschnacke zu viel wird, geh’ ich eben hinters Haus.“ Platz gibt es genug. „In der Großstadt wohnen, das wär’ nix für mich. Anonymität gibt’s hier nicht, jeder hilft jedem! Außerdem hab’ ich festgestellt“, sagt Alles lachend, „dass selbst alteingesessene Dorfbewohner in der Lage sind, ‚langhaarige Bombenleger‘ zu akzeptieren!“

Die Idee, die viel beschworene Dorfgemeinschaft und das Landleben gleich zum Gegenstand eines ganzen Films zu machen, ist ihm eher zufällig gekommen. „Den Camcorder hab’ ich seit einem Jahr, filmen und schneiden macht mir total Spaß. Bei meinem Nachbarn hab’ ich dann einen Film vom Wacken Open Air gesehen, den ich total klasse fand“ – nicht Veranstalter oder Bands des Heavy-Metal-Festivals kommen darin zu Wort, sondern der Bauer, der Strohballen hinbringt. Oder der Mann aus dem Dorf, der Müllsäcke verteilt. „Ich hab’ dann angefangen, einfach mal die Leute hier im Dorf zu filmen.“ Sowas wie ein Drehbuch habe sich erst viel später, beim Schneiden, ergeben.

Drei Monate lang hat er seine Nachbarn auf Schritt und Tritt mit der Kamera verfolgt, war dabei, wenn sie gemeinsam grillten, einen Baum absägten oder ein Dorffest planten. „Es sollte ganz einfach Spaß machen, mir selbst und den anderen“, sagt Alles. „Und um Gottes Willen keine Dorfchronik oder sowas werden!“ Das Ergebnis: die einstündige Dokumentation „Agethorst – vom Leben auf dem Lande“. Seine ganz eigene Sicht auf dieses Landleben hat Alles hineingepackt; hat gefilmt, wie die Dorfbewohner zusammen einen Kuhstall abreißen, gemeinsam Brot backen und anschließend im Dorf verkaufen, oder einfach mit einer Kiste Bier und einer Flasche Köm auf der Mauer vorm Haus sitzen. Außerdem hat er die Leute zu Hause interviewt und das Ganze mit Impressionen vom Landleben und passender Musik unterlegt – zu Winnetou-Klängen galoppiert da ein Pferd über satte Wiesen, Vögel singen dazu, und am sattblauen Himmel hängt die Mondsichel.

Das Ergebnis: eine soziologische Studie mit viel freiwilliger und manch unfreiwilliger Komik. Und: So wie Tommy Alles denken viele Agethorster: „Uns gefällt’s hier, wir wollen hier nicht weg!“ Auf dem Land ist die Welt also noch in Ordnung? „Klar“, sagt Alles, „es gibt auch negative Seiten. Das ständige Aufeinanderhocken zum Beispiel, wo man irgendwann jeden Schnack kennt.“

Das geht nicht nur ihm so, dem Zugezogenen. Im Film erzählt auch Renate K. davon, dass sie manchmal einfach mal raus muss. In ihren Wohnwagen an die Ostsee. „Wenn ich dann wiederkomme“, sagt die Rentnerin, „freue ich mich auf mein Agethorst!“ Und Helmut W. erinnert sich daran, dass es hier früher alles gegeben habe: Sparkasse, Einkaufsladen, Gastwirtschaft. Heute ist davon nichts geblieben. Doch wer nicht damit klarkommt, dass der Kaufmann nur einmal die Woche mit seinem Wagen durchs Dorf fährt, dass man aufs Auto angewiesen ist, den würde es gar nicht erst hierher verschlagen. Ein heiles Stück Erde also, im strukturschwachen Norden? „Nö is’ doch ’n lustiges Dorf hier, wie Urlaub!“ Thomas M. fläzt sich in den Gartenstuhl.

Ein Stück des heute vorhandenen Zusammengehörigkeitsgefühls geht auf das Konto des Films. „Die Vorführung war ein Riesenerfolg“, schwärmt Regisseur Alles. „Irgendwo hab’ ich noch die ‚Goldene Kamera‘ stehen, die die Agethorster mir gebastelt haben!“ Drei von ihnen haben schon ihre Mitarbeit für die geplante Fortsetzung zugesichert, die ersten Szenen sind gedreht. Auch diesmal werden wieder alle Dorfbewohner mitspielen. So viel vorab: Das Genre der unterhaltsamen soziologischen Studie wird eingekleidet in eine kriminalistische Rahmenhandlung – es geht um eine geklaute Kuh. Und weil der Filmer selbst bekennender Fan ist von „Alarm für Cobra 11 – Die Autobahnpolizei“, sollen auf jeden Fall auch rasante Verfolgungsjagden vorkommen – „am besten als Originaleinspieler!“ – kindliches Strahlen in den Augen des Mittvierzigers. Die A 23 ist zwar nur ein paar Kilometer entfernt, aber abgesehen davon erinnert im gemächlichen Agethorst wenig an das mörderische Tempo der TV-Autobahnpolizisten. Wenn man schon auf dem Dorf lebt, sorgt man eben selbst für Action.