die taz vor 17 jahren über den „umbau“ in der cssr
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Noch ist der Funke nicht übergesprungen. Noch drängen sich nicht Hunderttausende auf den Straßen in Prag. Und doch ist sehr deutlich geworden, daß die Schlacht auf dem Wenzelsplatz eine der Abschiedsvorstellungen des 20 Jahre alten Regimes gewesen ist. Das marode und korrupte System rutscht vom Schild der Macht. Mit einer siegessicheren Gelassenheit diskutiert in Prag das Volk schon heute offen über morgen.

Es geht nicht um ein Arrangement mit den jetzigen Stützen des Systems. Es geht um ein neues System. Die Tschechen und Slowaken sind in Mitteleuropa die letzten Reformer. Ihr Dornröschenschlaf, verlängert durch Konsum, Ausweisung oder Flucht der Opposition und durch Staatsterror ist beendet. Das Volk rekelt sich. Während die Ausreisewelle die Menschen in der DDR schlagartig das Ausbluten des Staates und seine Gefahr für die eigene Existenz und den eigenen Wohlstand deutlich machte, zudem der Fluchtbewegung etwas Dramatisches anhaftet, gilt in der CSSR solches als Aha-Erlebnis. Und das Getöse der Reformer in den Nachbarländern war laut genug, die Tschechoslowaken zu wecken.

Das Volk Schweijks läßt sich nicht länger von dümmlichen Figuren regieren, deren Erklärungen, wie bei Jakes geschehen, ob ihrer Peinlichkeit in den Medien zurückgehalten werden. Es hat genug und löst nun den nach ’68 heimlich geschlossenen Vertrag auf, nach dem das Volk konsumiert und im privaten Leben von der Republik nichts wissen will und im Gegenzug der Staatsapparat regiert, wie er will, und sich nicht für die Menschen interessiert. Das Volk holt sich die Politik zurück. In den nächsten Tagen und Wochen wird auch in Prag kräftig umgebaut. FlorianBohnsack, taz vom 30. 10. 1989