Sind Inlandsflüge dekadent?
JA

HEIMREISE Zu Weihnachten schnell mit dem Flieger von Berlin nach Köln zur Verwandtschaft. Oft billiger als die Bahn, ökologischer Wahnsinn – selbst schon gebucht?

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen interessante LeserInnenantworten aus und drucken sie in der nächsten sonntaz. taz.de/sonntazstreit

Ipek Ipekcioglu, 38, ist türkischstämmige She-DJ und legt in ganz Deutschland auf

Wer auf Strecken unter 400 Kilometern fliegt, ist dekadent. Warum sollte ich auch von Berlin nach Hamburg fliegen, wenn ich mit der Bahn fast schneller da bin? Aber auch die Bahn ist dekadent, nämlich dekadent teuer. Sie kann deshalb nicht von den witterungsbedingt ausgefallenen Flügen profitieren. Was soll man da machen, wenn eine Zugfahrt 100 Euro teurer ist als der entsprechende Flug? Ich muss häufig nach Köln, da will ich nicht fünf Stunden im Zug sitzen, oder mit dem Auto zwölf Stunden hin- und zurückfahren. Zeit ist absolute Mangelware in meinem Leben. Ich bin prinzipiell gerne dekadent, denn wenn ich viel arbeite, möchte ich mir auch viel gönnen. Das schlechte Gewissen wegen der Umwelt legt sich leider mit der Zeit. Man gewöhnt sich daran.

Franziska Brantner, 31, ist Grünen-Europaabgeordnete und führt eine Fernbeziehung

Unser Wohlstandsmodell ist durch Klimazerstörung und Raubbau an der Natur leider ein Paradebeispiel für Dekadenz. Flüge über einige hundert Kilometer sind da nur eine besonders prägnante Spitze der schmelzenden Eisberge. Beruflich und privat kann es dennoch viele Gründe für Inlandsflüge geben. Ich selbst habe allerdings, seit ich Europa-Abgeordnete bin, noch nie einen solchen innerdeutschen Flug benötigt. Als überzeugte Europäerin gehe ich indes noch ein Stückchen weiter und werte eigentlich auch unvermeidliche Flüge von Brüssel nach Madrid oder Helsinki als Inlandsflug. Damit das nicht zum dekadenten Dilemma angesichts knallvoller Terminkalender und dicht gedrängter Sitzungswochen wird, bleibt eigentlich nur eines: die europäische Gemeinschaft für erneuerbare Energien. Denn wenn nicht mehr Kerosin, sondern die Kraft der Sonne die Flugzeuge antreibt, werden Inlandsflüge von Anzeichen der Dekadenz zu Vorboten eines ökologischen Aufschwungs.

Werner Reh, 58, BUND-Flugverkehrsexperte, engagiert sich für nachhaltige Mobilität

Wenn Regierungsbeamte, darunter viele Umwelt- und Verkehrsbeamte, zwischen Berlin und Bonn hin und her jetten, ist das ein Fall von Dekadenz auf Steuerzahlerkosten. Im Zug fährt man die Strecke in weniger als fünf Stunden. Eine Verlagerung auf die Schiene wäre möglich, wenn die Bahn das wirklich wollte. Doch dieses Ziel hatte sie noch nie, genau wie die Bundesregierung. Bisher finanziert sie zwar milliardenschwere Investitionen für Schienenanschlüsse von Flughäfen. Ob dort auch etwas passiert, ist ihr dann aber egal. Könnten Fluggäste mit ihrem Ticket Bahnzubringer nutzen, ließen sich viele innerdeutsche Flüge auf die Schiene verlagern. Ein erster Schritt für Glaubwürdigkeit und weniger Dekadenz wäre: Die Bundesregierung ändert ihre Reisekostenrichtlinie.

Ute Linsbauer, 41, vom „Forum anders reisen“, das nachhaltigen Tourismus unterstützt

Eine Flugreise zwischen München und Hamburg verursacht pro Passagier für Hin- und Rückflug 340 Kilogramm klimaschädliche Gase. Bei derselben Reise mit dem Zug wären es gerade einmal 80 Kilogramm CO2. Bisher waren Inlandsflüge oft wesentlich billiger zu haben als Bus- und Bahnreisen. Mit der Einführung der Flugsteuer ab 2011 wird diese Wettbewerbsverzerrung um einiges relativiert, denn es ist zu erwarten, dass die Kosten von den Fluggesellschaften auf die Kunden umgelegt werden. Darum befürwortet das „Forum anders reisen“ diese Steuer, auch wenn es wünschenswert wäre, die Gelder für ökologische Projekte zu verwenden. Doch dies ist nicht der Fall. Noch besser als eine nationale Flugsteuer wäre eigentlich eine internationale Abgabe, zum Beispiel in Form einer Kerosinsteuer. Die Zeitersparnis steht bei Inlandsflügen in keiner Relation zu ihrer Klimaauswirkung.

NEIN

Gabriele Zimmer, 55, ist Mitglied des Europäischen Parlaments für die Linkspartei

Inlandsflüge sind notwendig, weil es keinen flächen- und bedarfdeckenden funktionierenden und wetterfesten Personenfernverkehr von Bahn und Bus in Deutschland gibt. Um aus tiefster deutscher Provinz nach Berlin, Brüssel oder Wien zu kommen, bin ich auf Unternehmen angewiesen, die nicht nach ökologischem Sinn, Zeit und Effektivität fragen, sondern nach Gewinn. Der Nachtzug von Berlin nach Brüssel wurde gestrichen. Alternative ist der Flug Berlin–Brüssel. Verlassen kann ich mich weder auf Bahn noch Flieger. Wetterabhängigkeit, technische Probleme, Ausfälle, verpasste Anschlüsse und Frust – das bieten mir beide gleichermaßen. So gesehen wähle ich das vermeintlich kleinere Übel.

Martin Seel, 56, Professor für Philosophie, Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Inlandsflüge sind vor allem eines: unpraktisch. Man muss sich an den Rand von Großstädten begeben und kommt an ihrem Rand an, wo es doch in ihrer Mitte – günstigenfalls oberirdische – Bahnhöfe gibt. Auf den Abflug wartet man meist länger als man reist. Als Normalsterblicher sitzt man beengter noch als im Auto, kann sich nicht frei bewegen und sieht nichts oder nicht viel. Sollte es einem doch mal gelingen, es sich bequem zu machen, ist man leider schon da. Diese ästhetischen Nachteile sagen eigentlich alles. Man muss also gar nicht das ökologische Gewissen bemühen, um sich von dem Luxus der relativen Langsamkeit des Zugfahrens zu überzeugen. Den verschmähen nur die, die dem Irrglauben anhängen, ihre Effizienz durch unproduktiven Mußeverzicht steigern zu können. Darum braucht es auch nicht die Keule des Vorwurfs spätkapitalistischer Dekadenz, um den Unfug der Kurzfliegerei zu geißeln. Die wahre Dekadenz nämlich liegt darin, es geruhsam angehen zu lassen, selbst wenn man es eilig hat.

Jörg Handwerg, 43, arbeitet als Flugkapitän und Sprecher des Berufsverbands Cockpit

Bei Strecken über 500 Kilometer ist das Fliegen nicht nur wesentlich schneller, sondern auch unter Umweltaspekten eine echte Alternative zu anderen Transportmitteln. Das Image der Fliegerei, in Bezug auf Umweltbeeinträchtigung, ist heutzutage leider noch geprägt aus Zeiten, als Flugzeuge zehnmal mehr Lärm gemacht haben und schwarze Rußfahnen hinter sich herzogen. Moderne Flugzeuge haben auf längeren Strecken eine durchaus vergleichbare Umweltbilanz wie die Bahn, mal abgesehen vom Zeitgewinn und dem geringen Flächenverbrauch. Jede Art der motorisierten Fortbewegung beeinträchtigt die Umwelt. Die Flexibilität, die uns heute abverlangt wird, ermöglicht nicht immer, in einer Großfamilie an einem Ort zu leben. Der Wunsch, seine Familie wenigstens an Weihnachten zu sehen, ist sicherlich alles andere als dekadent.

Sven Kesselring, 44, ist Mobilitätssoziologe an der Technischen Universität München

Seit Jahren müssen Dienstreisende immer mehr Termine in immer kürzerer Zeit schaffen. Die Mobilitätsregime der Betriebe sind rigide. Mancher würde gern die Wahl haben: „Fliege ich heute oder nehme ich den Zug?“ Morgens von Berlin nach München, am Nachmittag den Termin in Stuttgart und zurück in die Hauptstadt – das schafft man nur im Flieger. Die Frage ist nur, wie lange das noch gut geht. In den Betrieben fehlen oft Kreativität und das menschliche Maß, Mobilität anders zu organisieren. Fliegen ist nicht dekadent, sondern stressig und oft auch ineffektiv. Eine Bahnreise kann deutlich produktiver sein als die Hetze durch Airports und mit dem Taxi in die Stadtmitte. Der Luxus hält sich zudem in Grenzen. Auf Inlandsflügen ist die erste Klasse meist tabu. Wer wirklich dekadent sein will, sollte den Luxus einer entspannten Bahnreise bei einem Glas Wein oder einem guten Buch genießen.