Europäische Löhne in Indonesien sind nicht das Ziel

■ Gewerkschaften und Regierungen im Norden wollen Mindestrechte für Arbeitnehmer. Im Süden geraten sie damit schnell unter Protektionismusverdacht

Der Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO), Renato Ruggiero, ist ein Optimist. Zu Beginn des Welthandelsgipfels zeigte sich der Italiener dementsprechend überzeugt, das Treffen in Singapur werde zu einem Kompromiß in der umstrittenen Frage der Mindestarbeitsnormen führen. Man werde beim Gipfel eine Formel finden, so daß die Arbeitnehmerrechte in der Abschlußerklärung Erwähnung finden können.

Aber um solche Formeln geht es nicht. Die eigentlichen Konflikte um freien Handel, die Rechte der Arbeiterschaft und Protektionismus werden von den Schlagworten eher verdeckt. Sie lassen sich durch Formelkompromisse nicht auflösen und werden die WTO auch in Zukunft beschäftigen.

Nehmen wir die Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie gehört zu den internationalsten aller Wirtschaftssektoren und ist eine Branche, auf der viele Entwicklungsländer, insbesondere in Asien, ihre Industrialisierung aufgebaut haben. Auf einem immer noch wachsenden weltweiten Textilmarkt nimmt der Marktanteil der Europäer zum Beispiel beständig ab, während der Anteil Südostasiens wächst. Schon deswegen handelt es sich um einen Industriezweig, in dem sich viele dieser Konflikte bündeln.

Beispiele für Ausbeutung der Arbeiter sind in der Textilindustrie Legion. Bekleidungsarbeiter in Bangladesch – einem Land, das für zwei Drittel seiner Deviseneinnahmen auf Textilexporte angewiesen ist – verdienen etwa 90 Mark im Monat, bei einer regelmäßigen 60-Stunden-Woche. Schwitzbuden in Freihandelszonen auf den Philippinen, in China und in anderen Ländern zahlen Löhne unter der Armutsgrenze und verbieten ihren Beschäftigten jede gewerkschaftliche Organisation. Und in Indien, Pakistan und Nepal stellen häufig Kinder handgeknüpfte Teppiche her.

Das sind die Beispiele, mit denen die westlichen Kampagnen für Mindestarbeitsnormen im internationalen Handel begründet werden. Aber was liegt den Kampagnen wirklich zugrunde. Nur die moralische Empörung oder spielt auch ein gutes Stück ökonomischer Protektionismus mit? Willi Dürr, Sprecher der Gewerkschaft Textil-Bekleidung in Düsseldorf, besteht darauf, die gewerkschaftlichen Aktivitäten seien moralisch begründet. Dürr sagt, die Position seiner Gewerkschaft zugunsten von Arbeitsnormen sei Ergebnis enger Kontakte mit Gewerkschaften in Asien und Mittelamerika. Ihm zufolge drängen diese Gruppen die westlichen Gewerkschaften, bessere Arbeitsbedingungen im Süden zu fordern.

Außerdem würden viele Produkte, wie zum Beispiel handgeknüpfte Teppiche, in Deutschland gar nicht mehr hergestellt; deshalb hält er den Vorwurf, es sollten damit Arbeitsplätze geschützt werden, für unsinnig.

Aber er räumt ein, daß auch die Ökonomie eine Rolle spielt. Die deutschen Gewerkschaften seien natürlich besorgt um die Arbeitsplätze im Lande, sagt er. Auf dieser Grundlage ziele die Kampagne für Arbeitsnormen auf vergleichbare Mindestarbeitsbedingungen in allen Ländern, um einen fairen internationalen Wettbewerb und eine faire internationale Arbeitsteilung zu gewährleisten.

Diese Mindestarbeitsbedingungen sollten, wie er meint, nur die extreme Ausbeutung der Arbeiter ausschließen; das Ziel könne nicht darin liegen, für Asien ein europäisches Lohnniveau durchzusetzen.

Dieses letztere Argument ähnelt dem der Regierungen, die die Forderung nach Arbeitsnormen bei der Welthandelsorganisation unterstützen. Sir Leon Brittan zum Beispiel, der Handelskommissar der EU, unterstützt die Aktivitäten der WTO in dieser Frage, weil er im Westen in der Arbeiterschaft und anderen Kreisen eine noch stärkere Welle des Protektionismus voraussieht, falls das Thema nicht öffentlich behandelt werde.

Andere Konflikte entkräften jedoch dieses Argument der westlichen Regierungen. In Süd- und Südostasien zum Beispiel sind viele regierungsunabhängige Gruppierungen und auch einige Gewerkschaften – den Aussagen Dürrs zum Trotze – gegen Mindestarbeitsnormen eingestellt.

Das ist teilweise darauf zurückzuführen, daß sie der Welthandelsorganisation als einer westlich beherrschten Körperschaft nicht zutrauen, daß sie diese Normen angemessen durchsetzen könnte. Aber ein anderer Grund liegt in den deutlichen Beweisen dafür, daß gerade die Länder, die sich für Arbeitsnormen aussprechen, zugleich auch allen Freihandelsmaßnahmen für Textilien, die für den Süden von lebenswichtiger Bedeutung sind, sehr zurückhaltend gegenüberstehen. Kein Wunder: In immer mehr Bereichen der Textilindustrie unterscheidet sich die eingesetzte Technologie in den Industrieländern und den aufstrebenden Staaten Südasiens immer weniger. Das Nähen läßt sich nicht einfach automatisieren.

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Gatt-Runde von 1994 in Uruguay, die der Gründung der Welthandelsorganisation vorausging, war das Auslaufen des Multifaser-Abkommens (MFA), das über zwanzig Jahre lang den internationalen Textil- und Bekleidungshandel einschränkte.

Westliche Länder erklärten sich bereit, das MFA ab 1995 in einem vierstufigen Prozeß über zehn Jahre auslaufen zu lassen. Nach UNO-Schätzungen könnten bei einem Wegfall der MFA-Einschränkungen die Entwicklungsländer ihre Exporteinkünfte um 240 Milliarden Dollar jährlich steigern.

Aber Kritiker bemängeln, daß die USA und Europa, um ihre einheimische Industrie zu schützen, den Auslaufprozeß sehr ungleichmäßig durchführen. Insbesondere verschieben sie Produkte, die für Entwicklungsländer besonders wichtig sind, wie Kleidungsstücke auf Baumwollbasis, an das Ende des zehnjährigen Zeitraums.

Die USA und Europa behaupten, sie hielten sich an die technischen Einzelheiten, wenn nicht sogar an den Geist des Abkommens, und werfen ihrerseits Entwicklungsländern vor, sie hielten sich nicht an ihre Seite des Abkommens – nämlich ihre eigenen Textil- und Bekleidungsmärkte zu öffnen. Diese Ansicht teilt auch die Gewerkschaft Textil-Bekleidung, derzufolge Europa alles tut, was es sollte, während Länder wie Indien nicht genug täten.

Das Thema des MFA erweist sich in Singapur als umstritten. Auf der Suche nach einem Kompromiß sollen die USA und Kanada am Montag angeblich ihre Einwände gegen eine Erklärung fallengelassen haben, in der die westlichen Länder implizit aufgefordert werden, die Einschränkungen für Textilimporte aus Entwicklungsländern schneller abzubauen.

Wie immer das Ergebnis in dieser Frage aussehen mag: Das offensichtliche Zögern westlicher Länder bei der Einhaltung solcher Verpflichtungen zum freien Handel hat im Bewußtsein vieler Menschen in den Entwicklungsländern die Legitimität westlicher Predigten über globale Arbeitsnormen untergraben. Hugh Williamson, Köln