Politik mit zu vielen Köchen

In Beirut kämpfen zwei Lager mit völlig verschiedenen Konzepten um die Macht. Die USA unterstützen die Regierung, Iran und Syrien die Hisbollah

Gemayels Mörder wussten, dass ihre Tat das Fass zum Über-laufen bringen könnte

VON KARIM EL-GAWHARY

Nichts wie nach Hause, wer weiß, was als nächstes passiert! Es war ein libanesischer Reflex, geboren aus der Erfahrung von 16 Jahren blutigem Bürgerkrieg, einem erst vor drei Monaten beendeten Waffengang mit Israel und einer langen Liste politischer Morde. Als sich die Nachricht vom Mord am libanesischen Industrieminister und christlichen Falange-Politiker Pierre Gemayel verbreitete, leerten sich in Beirut sofort die Straßen.

Die Mörder wussten, dass ihre Tat in einer ohnehin angespannten politischen Situation in jedem Libanesen ein Bürgerkriegs-Déjà-vu auslösen würde – und das Fass erneut zum Überlaufen bringen könnte. Seit Monaten ist das Land politisch vollkommen polarisiert und alle Institutionen sind damit paralysiert. Zwei Lager mit völlig verschiedenen Politikkonzepten kämpfen um die Macht. Die prowestliche Regierung unter der Führung des Premiers Fuad Siniora auf der einen Seite, die Hisbollah und ihre Verbündeten auf der anderen. Die einen haben die Mehrheit im Parlament, die anderen ihren „göttlichen Sieg über Israel“ im Rücken.

Doch die libanesische Politik hat zahlreiche Köche, viele davon außerhalb des Landes. Die USA unterstützen die Regierung, der Iran und Syrien die Hisbollah-Opposition – und dann ist da noch der israelische Nachbar. Wer hat also die Mörder Gemayels geschickt, deren Ziel eindeutig die Destabilisierung des Libanon, möglicherweise sogar einer neuer Bürgerkrieg war?

Die beiden libanesischen Lager haben sicher das Interesse, die gegenwärtige politische Pattsituation zu ihren Gunsten zu wenden und das politische Gleichgewicht ein wenig in ihre Richtung zu verschieben. So versucht jede Seite, den Mord an Gemayel zu verwerten. Die Hisbollah-Opposition argumentiert, dass die labile Lage nun eine Regierung der Nationalen Einheit erfordert, an der alle politischen Kräfte des Landes beteiligt sind.

Die Regierung klagt dagegen jetzt erst recht ein internationales Tribunal zur Untersuchung des Mordes am ehemaligen Premier Rafik Hariri ein, wie es der UN-Sicherheitsrat gerade abgesegnet hat. Den letzten Mord sieht sie als eine Kette politischer Attentate, deren Hintermänner in Damaskus sitzen.

Syrien hat ein Interesse, dass sich die Kräfteverhältnisse im Libanon wieder zugunsten ihrer Hisbollah-Verbündeten wenden. Das Land hat vielleicht auch eine offene Rechnung mit dem antisyrischen Regierungslager in Beirut, das vor zwei Jahren den Abzug der syrischen Truppen gefeiert hatte, darunter auch Gemayel. Aber Syrien kann kein Interesse daran haben, dass im Nachbarland das Chaos eines Bürgerkrieges ausbricht. Und würde Damaskus ausgerechnet in einer Zeit Mörder nach Beirut schicken, in der in Washington debattiert wird, ob man sich nicht Syrien annähern sollte, um mit Hilfe der Regierung in Damaskus die Krise im Irak unter Kontrolle zu bekommen?

Gleiches gilt für den Iran, der immer mit Hilfe der Hisbollah im Libanon mitmischt und ein Interesse hat, die Vereinigten Staaten an anderen Krisenherden jenseits des Iran zu beschäftigen. Und auch die USA und Israel sind daran interessiert, dass sich das Gleichgewicht im Libanon zugunsten des Regierungslagers und der antisyrischen Kräfte verschiebt. Beide wollen die Hisbollah als militärischen und politischen Faktor im Libanon liquidieren.

In Israel herrscht das Gefühl vor, dass der Krieg im Sommer verloren wurde, weil die Hisbollah daraus politisch gestärkt hervorging. Zwar haben sowohl die USA als auch Israel im Krieg aktiv die Stabilität des Libanon unterminiert – aber keiner von beiden hat ein Interesse, eine Situation im Libanon zu schaffen, in der die Straße regiert und eventuell von der militärisch starken Hisbollah übernommen wird.

Fazit: Seien es die beiden politischen Lager im Libanon oder die Regionalmächte Syrien, der Iran, Israel oder die Supermacht USA, alle Spieler wollen die Situation im Libanon ausnutzen, um das Machtgleichgewicht in ihrem Sinne zu ändern. Viele alte Rechnungen sind offen, aber niemand von ihnen hat ein Interesse, das Land wieder an den Rand eines Bürgerkrieges zu bringen.

Das heißt nicht, dass es innerhalb aller dieser Blöcke nicht radikale Elemente geben könnte, die ein Mordmotiv hätten: Beispielsweise syrische oder libanesische Geheimdienstler oder Militärs, die an Macht verloren haben. Aber es könnten auch Gruppierungen anderswo sein, die dafür sorgen wollen, dass Syrien und der Iran ihren Paria-Status behalten, die eine syrisch-iranische Annäherung an Washington sabotieren wollen.

Wer immer die Mörder waren, den Preis für die Tat zahlen die Libanesen mit ihrer Angst vor einem erneuten Bürgerkrieg. Der Libanon bräuchte eigentlich heute einen großen politischen Entwurf, um das friedliche Zusammenleben der unterschiedlichen Konfessionen und politischen Gruppen zu garantieren, ohne sich von außen gegeneinander ausspielen zu lassen. Die Frage ist, ob die alte Bürgerkriegsriege, die bis heute im Libanon die Politik bestimmt, einer solchen Anforderung gerecht werden kann.