Müssen wir Plastiktüten verbieten?

MÜLL Deutsche verbrauchen im Schnitt 76 Plastiktüten pro Jahr. Fast 90 Prozent davon landen direkt wieder im Müll. In Ruanda gibt es sie seit sieben Jahren nicht mehr

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JA

Julia Barthel, 29, ist Expertin für Kreislaufwirtschaft bei der Deutschen Umwelthilfe

Hierzulande werden pro Minute mehr als 11.600 Plastiktüten verbraucht. Es muss sich etwas tun! Ein Verbot stellt die radikalste Maßnahme dar; es steht jedoch im Widerspruch zur geltenden EU-Verpackungsrichtlinie. Damit würden wir ein teures Vertragsverletzungsverfahren riskieren. Gegen Italien läuft bereits eines. Die Abgabe auf Plastiktüten ist das wirksamste derzeit verfügbare Instrument, um der Tütenflut Herr zu werden. Bestes Beispiel: Irland. Dort wurde 2002 die Tütenabgabe eingeführt und der Pro-Kopf-Verbrauch von jährlich 328 auf 16 Stück gesenkt. Mehr als 100.000 Unterzeichner unserer Petition für eine Umweltabgabe auf Plastiktüten machen deutlich: Plastiktüten dürfen nicht mehr kostenlos sein! Das sollte die Bundesregierung ernst nehmen – und eine Abgabe auf Plastiktüten einführen.

Pam Longobardi, 55, ist Kunstprofessorin und macht Kunst aus Plastikmüll

Plastiktüten sollten verboten werden. Sie sind altmodisch und gefährlich. Wer sie unachtsam wegwirft, produziert giftigen Müll. Ihre Produktion verschlingt wichtige Wasser- und Energieressourcen. Dabei könnten die Tüten problemlos aus Stoff oder Plane hergestellt werden. Pottwale sind eine der ältesten Tierarten der Welt. Sie tauchen Tausende von Metern unter der Meeresoberfläche. Diese uralten Kreaturen sterben heute, weil sich in ihren Mägen giftiges Plastik ansammelt. Wir verschmutzen bereits die tiefsten Tiefen der Ozeane. Plastikmüll ist eine zentrale Komponente jedes Umweltproblems, mit dem wir uns heute konfrontiert sehen. Es ist paradox, dass wir in den entlegensten Gebieten Rohstoffe extrahieren, um daraus Wegwerfprodukte herzustellen. Diese verfolgen uns dann auf Jahrzehnte und zerstören unsere Umwelt – jene Umwelt, die uns am Leben erhält. Was wir dem Planeten und uns selbst antun, ist absurd: Wir töten mit Plastik.

Christine Nkulikiyinka, 49, ist die ruandische Botschafterin in Deutschland

In Ruanda haben wir als Umweltschutzmaßnahme den Gebrauch von Plastiktüten aus Polyethylen bereits 2008 verboten. Das ist für viele unvorstellbar. Konsequenz und Durchsetzung des Verbots waren dabei wichtig. Als das Verbot in Kraft trat und Bürger sich teilweise nicht daran gehalten haben, wurden sie von der Polizei dazu angehalten und Plastiktüten wurden konfisziert. Nach einer Woche hatten alle verstanden, dass dies ernst gemeint ist und dass Papiertüten oder Stofftaschen gute Alternativen sind. Es geht in erster Linie um Plastiktüten im alltäglichen Gebrauch. Medizinische und andere Einrichtungen, die den Gebrauch von Polyethylen für unabdingbar halten, können in Ausnahmefällen eine Sondergenehmigung beantragen. Ich bin sicher, wenn der politische Wille dazu da ist, kann man Plastikmüll überall drastisch reduzieren.

Bettina Berens, 52, ist taz-Leserin und hat die Frage per E-Mail kommentiert

Wir leben im Plastikzeitalter. Doch dieses Zeitalter ist endlich. Es gibt zwei Szenarien, die dieses Ende proklamieren: Der Müll, den wir der Erde zufügen, und die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen. Logischerweise sind wir für beides verantwortlich und könnten entsprechend beides verhindern. Ob dies durch das Verbot der Plastiktüte erreicht wird, ist ungewiss. Ich denke jedoch, dass der Mensch nicht ohne Verbote auskommt, sonst sähe es auf der Welt anders aus. Ein Verbot von Plastiktüten wäre jedoch nicht genug. Ein Verbot kann nur etwas bewirken, wenn es Alternativen gibt, wie zum Beispiel die Erlaubnis, Waren unverpackt abzugeben.

Nein

Renate Künast, 58, ist Abgeordnete der Grünen im Deutschen Bundestag

Plastiktüten gehören zurückgedrängt. Zielführender als ein Verbot ist die Einführung einer speziellen Abgabe für Plastiktüten auf Erdölbasis. Das damit erzielte Geld soll zielgerichtet ausgegeben werden: erstens für die Entwicklung von umweltfreundlichen Alternativen, zweitens für die Beratung von Bürgerinnen und Bürgern und drittens für ein verbessertes Plastikrecycling. Es ist doch absurd, dass Plastiktüten als Wegwerfprodukte angeboten werden, aber zugleich unfassbar stabil produziert sind. Klar ist also: Der Tütenverbrauch muss deutlich reduziert werden, um diese Ressourcenverschwendung und die Vermüllung zu beenden. Wir benötigen deswegen einen Umstieg auf abbaubare Alternativen, die aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden.

Michael Kern, 63, Geschäftsführer des Witzenhausen-Instituts für Abfall und Umwelt

Plastiktüten sind Teil unseres Alltags und erleichtern unser Leben. Aber wir sollten den Verbrauch von Plastiktüten reduzieren. Für mich als Abfallexperte steht die Abfallvermeidung an erster Stelle, nicht der Verzicht. Deshalb sollten wir Tüten mehrfach wiederverwenden und am Schluss verwerten. Der Energiegehalt ist vergleichbar mit Erdöl. Wenn Plastiktüten in Müllheizkraftwerken verbrannt werden, erzeugen sie Strom und Wärme. Littering, also Vermüllung, ist nicht Teil der gesetzlichen Abfallhierachie und muss unterbunden werden. Nicht das Produkt ist das Problem, sondern der Mensch, der nicht vernünftig damit umgeht. Zudem gibt es auch Tüten aus biologisch abbaubaren Kunststoffen, die überwiegend aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden und sich innerhalb weniger Wochen biologisch zersetzen können.

Michael Braungart, 56, ist Gründer des Umweltforschungsinstituts EPEA

Plastiktüten sind etwas Wunderbares. Man kann mit ihnen leicht Einkäufe transportieren, sie sind reißfest und eignen sich auch dafür, nasse Gegenstände wie Früchte zu transportieren. Allerdings landen sie in der Umwelt. Mehr als sechs Millionen Tonnen Plastik gelangen jedes Jahr in die Ozeane. Zurzeit sterben mehr Robben, Schildkröten und Wale durch Plastik als durch irgendetwas anderes. Ist dies ein Grund, Plastiktüten zu verbieten? Nein. Ein Plastiktüten-Verbot geistert ähnlich wie Nessie etwa alle fünfzehn Jahre herum. Das ist aber eine Alibidiskussion, denn das Plastikproblem muss anders gelöst werden. Die gesamte Kunststoffindustrie muss gesetzlich dazu verpflichtet werden, dass nichts von ihren Produkten in der Umwelt landet – auch kein Mikroplastik aus Zahnpasta. Eine unterstützende Maßnahme wäre es beispielsweise, auf alle Plastikgegenstände ein Pfand zu erheben.

Stephan Rabl, 31, ist Referent für Umweltpolitik im Handelsverband Deutschland Ein deutsches Verbot kann die Vermüllung der Meere nicht stoppen! Denn hierzulande werden Plastiktüten nahezu restlos stofflich oder thermisch entsorgt. Der Handel bietet den Kunden freilich auch Alternativen an – Taschen aus Baumwolle, Bio- oder Recyclingmaterialien oder auch Papiertüten und Klappkisten. Auf Kunststoff ganz zu verzichten ist aber keine Option, da dieser zum Beispiel beim Verpacken von Frischwaren oder beim Schutz des Einkaufs vor Nässe und Schmutz die besseren Produkteigenschaften hat. Auch die Transparenz des Materials ist beim Einkauf loser Ware ein wichtiges Kriterium. Ein Verbot würde mehr Vorverpacktes und damit Verpackungsmüll bedeuten; wenn kein bedarfsgerechter Einkauf möglich ist, letztlich auch mehr Lebensmittelabfall.