Alle wollen Bildungsgewerkschaft sein

Angesichts der Schulmisere proben die mächtigen Organisationen IG Metall, Ver.di und IG Chemie plötzlich den Schulterschluss mit der kleinen GEW. Sie fordern einen nationalen Dialog über Bildungsarmut und die Abschaffung der Hauptschule

AUS BERLIN CHRISTIAN FÜLLER

So schwer kann es sein, Seit’ an Seit’ zu marschieren. Da hatte die Hans-Böckler-Stiftung die DGB-Gewerkschaften nach Berlin gebeten, um über Bildungsarmut als soziale Frage des 21. Jahrhunderts einig zu werden. Auf dem Podium saß Bildungsministerin Annette Schavan (CDU), die man für ihre lahme Bildungspolitik attackieren wollte. Doch plötzlich stand der Feind in den eigenen Reihen: DGB-Vize Ingrid Sehrbrock, die ebenfalls der CDU angehört.

Als es um die Abschaffung der dreigliedrigen Schule ging, da drehte und wendete sich die beim DGB für Bildung zuständige Sehrbrock. „Liebe Ingrid, wirst du im CDU-Vorstand dagegen kämpfen, dass im neuen Grundsatzprogramm stehen soll: Das gegliederte Schulsystem hat sich als erfolgreich erwiesen?“ So stellte Ulrich Thöne, Chef der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Sehrbrock zur Rede. Doch Sehrbrocks Antwort blieb vage. Es gebe ja viele Fragen und das in allen Parteien, sagte sie nur, um die müsse sie sich genauso kümmern. Die Gewerkschafter, die sich im sozialen Ghetto Berlin-Neukölln getroffen hatten, grummelten und pfiffen vor Enttäuschung.

Dass die Gewerkschafter sich dennoch einig wurden, hatten sie Jutta Allmendinger zu verdanken. Die Chefin des Wissenschaftszentrums Berlin zeigte, wie unsozial das Bildungssystem ist. „Wir brauchen so etwas wie einen Pakt für Bildung, der die frühe Selektion im Bildungssystem zum Thema macht“, folgerte die Soziologin. Der Saal applaudierte.

Allmendingers um neueste Zahlen ergänzte Eckdaten schockierten die Gewerkschafter. Seit Mitte der Achtzigerjahre stieg die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss wieder auf 9 Prozent an. Zuvor war sie von 17 Prozent in den Sechzigerjahren auf 8 Prozent gefallen. „Seit einer Dekade gibt es es keine Bewegung zum Positiven“, sagte Allmendinger.

In Bremen und Thüringen befänden sich ein Drittel der Schüler unterhalb der Pisa-Kompetenzstufe II, sagte Allmendinger. Das bedeutet, sie können praktisch nicht lesen. In Ländern wie Schleswig-Holstein und Bremen blieben mehr als 40 Prozent der Schüler sitzen. Mobilität zwischen den Schulformen gebe es praktisch nur nach unten – 62 Prozent Absteigern stünden nur 19 Prozent Aufsteiger gegenüber. Nach der Schule absolvieren heute fast 40 Prozent der Hauptschüler statt einer Lehre nur staatliche Ersatzmaßnahmen, 1995 waren es 30 Prozent. „Wir müssen das dreigliedrige Schulsystem in seinen Grundfesten anpacken“, resümierte Allmendinger. „Sonst finden wir uns ab mit einer Gruppe, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt keine Chance hat.“

Als ob die Gewerkschafter noch einen letzten Zeugen gebraucht hätten, trat der Personalchef von ThyssenKrupp auf. Rudolf Meiler berichtete, dass der Stahlbauer zugleich einer Überalterung und einem Fachkräftemangel entgegensehe. Daher würden nun mehr Lehrlinge eingestellt. Allerdings finden sich bei ThyssenKrupp gerade noch sechs Prozent Hauptschüler unter den knapp 1.300 Auszubildenden. „Man kann nicht sagen, dass wir sie nicht wollen“, sagte Meiler. „Aber die Hauptschüler ziehen den Kürzeren bei den Tests.“

Plötzlich herrschte Einigkeit unter den Gewerkschaftern. Reihum meldeten sich die Teilnehmer „als Mitglied der Bildungsgewerkschaft Metall“ oder der „Bildungsgewerkschaft Ver.di“ und unterstützten Allmendingers Aufruf. Neu an dieser Entschlossenheit war die pragmatische und positive Art. „Wir müssen alle ins Boot bekommen, um die Hauptschule abzuschaffen“, sagte der bildungspolitische Sprecher der Gewerkschaft Bau-Chemie-Energie, Markus Römer.

Und selbst der sonst so scharf argumentierende GEW-Vorsitzende Thöne zeigte sich kompromissbereit. „Wir brauchen einen nationalen Bildungsdialog“, sagte er. „Das heißt, es gehören alle an einen Tisch, wenn wir über die selektiven Tendenzen des Schulsystems sprechen – aber wir müssen es in gegenseitiger Wertschätzung tun.“