Der Kopf im Kühlschrank

Tagsüber studieren sie, abends arbeiten sie in der Werbung: Vermutlich deshalb sind die lettischen Kunststudenten, die sich in der „Riga Review“ der NGBK vorstellen, so gut in Kommunikation

VON TIM ACKERMANN

Manchmal muss man einen Gegenstand mühsam umkreisen, um ein klareres Bild von ihm zu bekommen. Weil sie wissen wollten, wie sich Riga an seinen fransigen Rändern anfühlt, haben sich Kate Krolle und Katrina Sauškina, zwei Studentinnen der Kunstakademie Lettland, aufs Fahrrad geschwungen und eine Reise entlang der Stadtgrenze gemacht. Sie haben die verfallenen Hütten der alteingesessenen Einwohner gesehen und die Einfamilienhausträume der neureichen Pendler. Sie haben mit den Menschen geredet, die dort leben: Selbstversorger, Pilzsucher, Heumacher. „Auf der Grenzlinie wirkt alles ausgeglichen, angemessen und klar“, summieren die beiden Innenstädterinnen.

Krolles und Sauškinas pastorale Stadtumrundung lässt sich jetzt in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) nachvollziehen. An vier Hörstationen kann man den Interviews der beiden Kunststudentinnen auf ihrem Grenzgang lauschen. Säuberlich abgezirkelt wird in der Ausstellung jedoch nicht nur ein städtisches Territorium, sondern auch eine Brutstätte der Kunst: Die Ausstellung „Riga Review“ in der NGBK zeigt Werke, die nahezu alle in der baltischen 800.000-Einwohner-Kapitale entstanden sind. Geschaffen wurden die Arbeiten von zwölf Studenten der Kunstakademie Lettland.

Es ist durchaus nicht alltäglich, dass Kunststudenten international ausstellen. Die Schau in der NGBK gehört jedoch zu einer Ausstellungsreihe mit dem Titel „Crosskick“, bei der in diesem Jahr neun deutsche Kunstvereine mit Kunsthochschulen aus dem Ausland kooperieren. In Lingen stellen gerade Studenten aus Krakau aus. Genfer Nachwuchskünstlerinnen wurden in die Lüneburger Heide verpflanzt. Die NGBK hat sich – auch vermittelt durch frühere Kontakte zu lettischen Künstlern – der Letten angenommen. Die Kunstakademie in Riga ist übrigens die einzige in Lettland, die Kunstszene ist also überschaubar. „Riga Review“ gibt einen kleinen Überblick über den Nachwuchs. Es ist durchaus möglich, dass sich hier ein neuer „Local Hero“ verbirgt.

Vielleicht Oskars Poikans. Sein Niedrigfrequenz-Horn ist schon visuell ein Ereignis. Ein zwölf Meter langes Ungetüm. Ein riesiger Molch, der sich im White Cube eingenistet hat. Und doch wirkt das Instrument bei allem Gigantismus auch ziemlich filigran: Poikans hat es an einer dünnen Metallkonstruktion mit altmodischen Speichenrädern aufgehängt. Es gibt ein Bild, da steht der Künstler im feinen Anzug auf einem menschenleeren Feld und pustet in sein Horn wie in ein archaisches Mobiltelefon.

„Kommunikation“ haben fast alle der „Riga Review“-Künstler studiert. „Visuelle Kommunikation“, um genau zu sein. Bei Ojars Petersons, einem der wenigen Dozenten, die eine zarte Brise der Avantgarde durch die Hochschulflure wehen lassen. Die Sichtungsreise des NGBK-Teams während der Prüfungswoche an der lettischen Kunstakademie war scheinbar auch eine Reise in die Lehrtradition des 19. Jahrhunderts: „Da schreiben manche Professoren noch die Noten mit Kreide auf die fertigen Bilder“, berichtet Frank Wagner. Peterson Klassen erschienen einfach spannender, weil dort während des Produktionsprozesses auch diskutiert wurde.

Sandijs Ruluks allerdings muss das viele Reden irgendwann genervt haben. Sein Fotozyklus „Hide!“ zeigt Menschen, die ihre Köpfe in obskurer Weise verborgen haben. In geöffneten Küchenschränken, unter Heuhaufen oder grünen Sommerkleidchen. Kommunikation gleich null. „Ich möchte den Menschen in dem Moment erfassen, wenn er ausschließlich er selber ist – frei von den Meinungen anderer“, sagt Ruluks.

Paradoxerweise könnten seine minutiös inszenierten Hochglanzfotografieren auch gut in Modemagazinen Vintage-Klamotten anpreisen. Wie viele seiner Kommilitonen arbeitet Ruluks neben dem Studium in der Werbebranche. Mit lettischem Bafög sieht es mau aus. „Für die drei bis vier Besten des Jahrgangs gibt es vielleicht 100 Euro Förderung im Monat“, sagt Ruluks. Zum Leben braucht man auch in Lettland heutzutage das Fünffache. Dozent Ojars Petersons ist froh, wenn seine Studenten neben ihren Agenturjobs überhaupt noch Zeit für ihre Semesterarbeiten haben.

Vielleicht liegt es an diesem ständigen Wechsel zwischen Kunst und Kommerz, dass die lettischen Nachwuchskünstler sehr versiert darin sind, dem Betrachter ohne großes Aufhebens eine Botschaft einzuhämmern. Ob die Bushaltestelle, die Armands Zelčs in einen hermetisch abgeschlossenen Stahl- und Glaskubus umgebaut hat, oder Kaspars Podnieks’ Soundinstallation, in der er eine auditive Fliege um den Kopf des Zuhörers kreisen lässt – selbst in ihrem Nihilismus wirken die Arbeiten einfach immer gut gemacht.

Wer aber glaubt, hier würde Kunst für den Markt produziert, liegt falsch. Es gibt keinen Markt für zeitgenössische Kunst in Lettland. Die wenigen lettischen Galerien, die es gibt, verkaufen kitschige Ölmalereien. Ihre Ausstellungen müssen sich die jungen Künstler selbst organisieren. Zum Beispiel in Privatwohnungen. Und die Perspektive nach dem Studium? Ins Ausland gehen. Oder weiter Vollzeit in der heimischen Werbeindustrie arbeiten. „Es ist schon etwas deprimierend“, bringt Anete Melece die Stimmung auf den Punkt. Und malt die Geschichte vom traurigen Mann auf Salzgebäck.

„Riga Review“. Bis 22. April, NGBK, Oranienstraße 25, tgl. 12–18.30 Uhr