Die Arbeit kommt zuerst

WAHLPROGRAMME (1) Die SPD träumt weiter den Traum von der Vollbeschäftigung, damit spricht sie nicht alle an

VON CORD RIECHELMANN

Da jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger ist als ein Dutzend Programme, empfiehlt es sich, das Wahlprogramm einer Regierungspartei unter einem Aspekt zu lesen: auf welchen nächsten Schritt der Wähler darin vorbereitet werden soll. Im Fall des Berlinprogramms 2011–2016 der SPD stehen die Prioritäten bereits auf dem Umschlag: gute Arbeit, wachsende Wirtschaft, gute Bildung und sozialer Zusammenhalt. Wobei die Reihenfolge insofern ernst zu nehmen ist, als sie auch auf eine absteigende Bedeutung hinweist. Bei der SPD kam schon immer die Arbeit zuerst und das, was sie sozialen Zusammenhalt nennt, zuletzt.

„Die SPD will in Berlin Beschäftigung für alle. Wir werden uns nicht damit abfinden, dass Menschen ohne Arbeitsplatz bleiben“, heißt es im Programm, ungebrochen von jeder Wirklichkeit den Traum von der Vollbeschäftigung fortschreibend. Was es mit dem Gehalt dieser Willenserklärung auf sich hat, hat der konservative Publizist und langjährige Capital-Herausgeber Johannes Gross der SPD bereits Anfang der neunziger Jahre erklärt. Angesprochen auf das Vollbeschäftigungsversprechen in irgendeinem damaligen SPD-Programm, sagte Gross: Vollbeschäftigung werde es nie mehr geben. Ein Programm, das so etwas verspreche, sei gesellschaftlich völlig irrelevant. Gesellschaftlich relevant wäre es, zu erklären, wie man mit der wachsenden Zahl von Menschen, die Wirtschaft und Staat nicht mehr brauchen, umzugehen gedenke.

Natürlich steht dazu auch in diesem Parteiprogramm kein Wort. Da es aber die Höflichkeit verbietet, die SPD für so blöd zu halten, dass sie das nicht selbst auch weiß, ist zu fragen, was sie mit ihrem Arbeitsprogramm wirklich will. Dazu findet sich ein erstaunlicher Satz. „Arbeit ist für uns immer gute Arbeit“, steht da geschrieben. Es ist ein Satz, über den nachzudenken man besser unterlässt, weil sonst sehr schnell der Absturz in einen Thomas-Bernhard’schen Depressionsstrudel drohte. Die SPD fordert Mindestlöhne für alle Tätigkeiten, sie tut dies aber vor dem Hintergrund eines Arbeitsbegriffs, der jeden und jede zur Arbeit anhält. Wer einerseits arbeitslos oder andererseits an Theorie im Sinne Hegels als einer Arbeit am Begriff interessiert ist, hat in dieser Partei nichts zu suchen. Wo die Arbeit im Mittelpunkt steht, ist für sehr viele Menschen kein Platz.

Wer aber Arbeit und ein Auto hat und so viel verdient, dass er sich demnächst noch ein zweites Auto kaufen will, ist bei der SPD gut aufgehoben. Ausdrücklich will sie keinen „Kulturkampf“ gegen das Auto führen und „Verkehr und Mobilität intelligent gestalten“. Die Berliner Sozialdemokraten versichern: „Darüber hinaus betreiben wir gemeinsam mit der BVG weiterhin die Grundsanierung und Qualitätsverbesserung von U- und Straßenbahnen.“

Das ist gut und wird bestimmt schön. Interessanter ist aber in diesem Fall, dass sich die SPD hier – im Unterschied zu den programmatischen Passagen zur Arbeit – von einer Hoffnung der frühen siebziger Jahre verabschiedet hat: Von einer kostenlosen Nutzung des Nahverkehrs oder auch nur der Umkehrung des Trends der stetigen Preiserhöhung bei Bus und U-Bahn ist keine Rede mehr.

Dafür will die SPD den Aufbau eines kostenfreien WLAN-Netzes an zentralen Orten der Stadt vorantreiben und die Auseinandersetzung mit dem Internet bereits in der Schule fördern. Dagegen ist nichts zu sagen, außer der kleinen Anmerkung, dass die Förderung in der Schule heute wirklich nichts mehr kostet, da schon Kinderladenkinder besser mit Computer und Internet umgehen können als der SPD-Internetberater Sascha Lobo.

In den Kapiteln zur Schule des sehr zurückhaltend, staatstragend und wenig schreierisch geschriebenen Programms stößt man allerdings auf einen Widerspruch. So will die SPD die Umweltbildung in den Schulen ausbauen. Gleichzeitig ist sie aber für eine Hochschulpolitik verantwortlich, die etwa das Biologiestudium an der FU nicht nur für Lehramtskandidaten so zusammengestrichen hat, dass selbst der bestimmt nicht linksverdächtige ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, anmerkte, eine solche Ausbildung verdiene den Namen Biologiestudium nicht mehr. Ein Problem ist das für die SPD anscheinend nicht. Auf die alte Frage von Karl Marx – wer erzieht die Erzieher? – hat sie eine klare Antwort: wir, die SPD, in Verbindung mit der Wirtschaft. Denn: „Die SPD wird aus Umwelt Arbeit schaffen.“ Nicht mal mehr den Bäumen werden sie ihre Ruhe ohne Arbeit gönnen.

■ In den kommenden Wochen vor der Wahl werden taz-AutorInnen die Programme weiterer Parteien rezensieren