Kinderschutz ist noch kein Alltag

FORTBILDUNGEN In den letzten Jahren sorgten immer wieder Missbrauchsfälle und Übergriffe in Kindertagesstätten oder Pflegeheimen für Schlagzeilen. Bei der Prävention solcher Übergriffe setzen Sozialeinrichtungen in Hamburg deshalb auf Sensibilisierung und Aufklärung

„Missbrauch darf nicht länger zum Grundrisiko einer Kindheit gehören“

Johannes-Wilhelm Rörig, Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs

VON BIRK GRÜLING

Es waren Skandale, die schockierten: die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg in Berlin, in der Odenwaldschule oder dem Kloster Ettal. Auch in Hamburg wurde im letzten Jahr ein Erzieher wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs verurteilt. Knapp fünf Jahre nach Bekanntwerden der ersten Fälle aus Berlin zog Johannes-Wilhelm Rörig, der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung, eine eher kritische Bilanz der Aufarbeitung und Prävention.

Zwar habe die Menge von Betroffenenberichten wichtige Konsequenzen nach sich gezogen: Die Sensibilität in Kitas, Schulen, Kirchengemeinden und Sportvereinen sei gestiegen, Verjährungsfristen wurden verlängert und das Strafrecht verschärft. „Dies alles darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt noch immer nicht gelebter Alltag ist“, sagt Rörig. Ein weiterer Kritikpunkt: Noch viel zu wenige Einrichtungen haben umfassende Schutzkonzepte. Das gilt nicht nur für Kindertagesstätten, sondern auch für Einrichtung für Menschen mit Behinderung, Pflegedienste oder Senioreneinrichtungen. In Hamburg haben einige Sozialträger auf die Skandale reagiert und gehen inzwischen offensiver mit dem Thema Machtmissbrauch um.

Ein wichtiger Bestandteil der Prävention ist die Sensibilisierung durch Fortbildungen und Schulungen. Auch im Bildungsprogramm der Paritätischen Akademie Nord spielt das Thema eine wichtige Rolle. In Kooperation mit externen Beratungsstellen wie Pro Familia werden zum Beispiel Fortbildungen zu sexueller Gewalt oder dem Umgang mit Gewalt von Kindern und Jugendlichen untereinander angeboten. Auch für Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und Pflegedienste gibt es Schulungen. Die Mitarbeiter sollen lernen, Gefährdungen schon früh zu erkennen und entsprechend zu verhindern.

„Die Unsicherheit im Umgang mit dem Thema Machtmissbrauch ist oft groß“, sagt Werner Pieper, Bildungsreferent beim Paritätischen Verband Hamburg. Typische Fragen sind: Wie reagiert man, wenn man Machtmissbrauch seitens der Kollegen wahrnimmt? Wie spricht man Verdachtsfälle im Team oder gegenüber Angehörigen an? Auch die verschiedenen Formen von Machtmissbrauch sind nicht immer klar zu unterscheiden. Neben einer bewussten und gezielten Grenzüberschreitung in Form von Gewalt oder sexuellem Missbrauch gibt es auch unbewusste Formen. Dazu gehören zum Beispiel das Abschließen eines Kühlschranks oder einer Schublade, die gezielte Nichtbeachtung oder das Anschreien von Schutzbefohlenen. Häufig sind das Zeichen von Hilflosigkeit und Überforderung.

Um all diese Facetten des Machtmissbrauchs zu thematisieren, wird in den Workshops anhand von Fallbeispielen über die Formen von grenzverletzendem Verhalten und über das „Vier-Augen-Prinzip“ gesprochen. Auch das Aufstellen eines Verhaltenskodex wird angeregt. „Auf dem Weg zu effektiven Präventionskonzepten sollen unsere Fortbildungen vor allem Impulse geben. Die Umsetzung in die Praxis kann nicht in zwei Tagen gelingen“, sagt Pieper.

Um diese Prozesse stärker zu begleiten, bietet die Paritätische Akademie Nord Reflexionstage an. Acht bis zwölf Wochen nach dem ersten Fortbildungsblock können die Seminarteilnehmer noch einmal über die Umsetzung der Handlungsimpulse sprechen. Tatsächlich sind bei der Umsetzung in die Praxis viel Fingerspitzengefühl und Führungsqualitäten gefordert. So soll Sensibilität für das eigene Handeln und das des gesamten Teams geschärft werden.

Andererseits darf kein Misstrauen zwischen den Kollegen geschürt werden. „Es braucht eine Feedback-Kultur, die die Mitarbeiter positiv bestärkt, ihr Verhalten zu reflektieren und selbst Situationen zu erkennen, in denen sie Grenzen überschritten haben“, sagt Britta Siemssen, zuständig für Dienstleistungsentwicklung bei Alsterdorf-Assistenz-West. Dazu gehört auch in Dienstbesprechungen Fallbeispiele von Machtmissbrauch zu diskutieren und Alternativen für das eigene Handeln anzubieten. Dieses Bewusstsein könne durch Fortbildungen und Supervision gestärkt werden, so Siemssen. Ein weiterer Faktor in Sachen Prävention ist Transparenz. Bei vielen Missbrauchsfällen schützten Mauern und geschlossene Türen die Täter.

In manchen Kindertagesstätten finden deshalb Tätigkeiten mit großer körperlicher Nähe nicht mehr hinter verschlossenen Türen statt – entweder sind mehrere Betreuer dabei oder die Türen bleiben halboffen. Auch im Bereich der Behinderteneinrichtungen hat sich viel getan. Die Wohngruppen sind aktiv in das Leben im Stadtteil integriert. Die Betreuer heißen heute Assistenten und agieren stärker auf Augenhöhe, statt von oben herab. „Die Machtstellung ist kleiner geworden“, sagt Siemssen. Von einem abgeschlossenen Prozess will sie trotzdem nicht sprechen. Machtmissbrauch habe dafür einfach zu viele Facetten und Ursachen. „Wir dürfen nicht aufhören, für dieses Thema zu sensibilisieren. Vielmehr muss sich jede Einrichtung fragen, was man verbessern kann“, fordert sie.

Ganz ähnlich sieht das auch der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs: „Solange nicht alle uns bekannten Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden, bleibt Missbrauch weiterhin ein Skandal in Deutschland. Missbrauch darf nicht länger zum Grundrisiko einer Kindheit gehören“, sagt Rörig.