Nationalitäten im Kaukasus

Ausgerechnet in Transkaukasien soll Gorbatschows neuer Kurs auf die Probe gestellt werden. Das kann kaum gut gehen. Die Bevölkerung Armeniens besteht zu 88 Prozent aus Armeniern, die Aserbeidschans zu 67 Prozent aus Aserbeidschanern, die Georgiens zu 65 Prozent aus Georgiern. Der jeweilige Rest besteht aus den ungeliebten Nachbarn, den Russen und sonstigen Völkerschaften. 40 Sprachen werden auf dem Gebiet dieser drei Republiken gesprochen und viele von ihnen nirgendwo sonst. In den Autonomen Republiken und Autonomen Gebieten wiederholen sich die Mischungsverhältnisse. Kulturell Unterschiede und gegenseitige Ressentiments sind groß. Die Armenier sind wahrscheinlich Nachfahren der Phrygier und damit anatolisches Urgestein. Christianisiert wurden sie im 4.Jahrhundert, ihre Schrift datiert aus dem 6.Jahrhundert. Außerhalb ihres Gebietes waren sie im Osmanischen Reich als weltoffene Kaufleute in allen größeren Städten ansässig. Das weckte auch bei den Georgiern Ressentiments. 1890 wurde in Tiflis, damals eine überwiegend armenische Stadt, die nationalistische Daschnaken– Bewegung gegründet; ab 1894 begannen die Massaker durch die osmanische Armee und die Pogrome durch Türken und Kurden, die in dem Völkermord an den Armeniern 1915/16 ihren schauerlichen Abschluß fanden. Anders als die christliche Kirche, die völlig eigenständig ist, stand die georgische immer in Verbindung mit der russisch–orthodoxen. Wie die Armenier haben auch die Georgier haben ihre eigene Schrift bewahrt. Charakteristisch war im Vergleich zum übrigen islamisch–christlichen Kulturkreis die geachtetere Position der Frauen. Die russische Anne xion von 1801 war nicht ganz unerwünscht. Der georgischen Kirche lagen die orthodoxen Russen mehr als die islamischen Perser oder Türken. Die neuen Herren verkörperten in dem rückständigen Land die europäische Zivilisation. Die Leibeigenschaft war zwar drückender und dauerte länger als im europäischen Rußland. Dafür verschickte die zaristsiche Justiz russische und polnische Rebellen nach Georgien, wo sie offene Ohren fanden. In fast allen revolutionären Gruppen, die den Sturz des Zarismus anstrebten, waren daher georgische Intellektuelle führend beteiligt. Die Aserbeidschaner wiederum sprechen Türkisch und sind Schiiten. 1828 wurde ihr Land aufgeteilt. Der Norden, die heutige Sowjetrepublik, kam zu Rußland, der Süden blieb bei Persien. Die nationalistische Intelligenz, die Ende des 19.Jahrhunderts entstand, hing den großtürkischen Träumen der „Jungtürken“ in Konstantinopel nach. Das schloß Solidarität mit den Armeniern aus. Mit der Oktoberrevolution bricht die russische Herrschaft der ganzen Region zusammen. Eine antibolschewikische transkaukasische Republik scheitert an den internen Nationalzwisten. Das Ende des Bürgerkriegs zwischen Armeniern und Aserbeidschanern beendete auch die kaukasischen Wirren. Die bürgerliche Regierung Aserbeidschans wird 1920 durch einen bolschewistischen Aufstand in Baku mühelos beseitigt. Die armenische Daschnaken– Regierung, die die Weißgardisten unterstützt hat, schickt sich 1920 an, Ostanatolien zu besetzten. Ihre Armee wird jedoch von Kemal Atatürk vernichtend geschlagen. Die Daschnaken–Regierung stürzt, die Rote Armee marschiert ein. Im georgischen Tiflis nützt, ebenfalls 1920, der menschewistischen Regierung die Unterstützung der Sozialdemokraten aller Länder nichts. Die Rote Armee, in ihr viele Georgier, erreicht die Stadt fast kampflos. Nach dem Vorbild der russischen Föderation entsteht 1924 eine Transkaukasische Sowjetrepublik mit vielen Autonomen Republiken und Gebieten für die nationalen Minderheiten. In jener Zeit werden auch Berg–Karabach und Nachitschewan, das damals noch überwiegend armenisch besiedelt ist, als autonome Einheiten geschaffen und Aserbeidschan zugeordnet. Der Grund dafür ist nicht Nationalitätenschutz, sondern ein Deal Moskaus mit der türkischen Regierung. Damit ist Sprengstoff gelegt. 1936 wird die Transkaukasische Republik wieder aufgelöst. Die Ressentiments bleiben. In der Zeit der harten Diktatur treten nach außen hin keine sichtbaren Probleme auf. Erst die Lockerung nach Stalins Tod macht die Instabilität des Nationalitätenmodells deutlich. Jede Nation soll danach vor allem kulturelle Autonomie haben. Die Sprache der Völker untereinander aber soll Russisch sein. Zentralisierung und größräumige Integration stärken also die Dominanz des Russischen. In gleicher Richtung wirkt die räumliche Mobilität. Die Kinder der armenischen Ingenieurin, die in Kasachstan einen Esten heiratet, werden Russisch als ihre Muttersprache ansehen. Und wer will, daß seine Kinder gute Aufstiegschancen haben, wird für russische Sprachkenntnisse sorgen. Die Nationalsprachen werden so allmählich zu Bauernsprachen. Zumindest befürchten das jene, die die Russifizierung aktiv bekämpfen. Deren Kampf ist keineswegs hoffnungslos, denn ihr mächtigster Verbündeter ist der russische Chauvinismus selbst. Nationalistischer Druck und Assimilationszwang schaffen immer wieder entsprechende Gegenbewegungen, und die haben ihre Eigendynamik. Erhard Stölting