Kleiner Sturm auf die Bastille: Wenn Sozialisten feiern

Endlich einmal liegt die Bastille nicht trostlos da wie eine von allen guten Revolutionsgeistern verlassene Insel im Pariser Verkehrschaos. Zumindest einige Stufen der mit Scheinwerfern von unten angestrahlten Siegessäule, des Wahrzeichens der französischen Revolution, sind bevölkert. Hier, wie überall drumherum, überwiegend junge Leute, die meist in Gruppen, zu Fuß, in oder auf Autos sitzen, hupen, grölen und Mitterrand–Plakate vor sich herbalancieren. „Wir haben gewonnen“, schreien sie. 1981, nach dem großen bedeutenden Wahlsieg der Sozialisten, waren hier an die 100.000 Menschen spontan zusammengekommen. Am Sonntag abend nach dem großen Wahlsieg des Sozialisten Franois Mitterrand, der im Amt als Präsident der Franzosen bestätigt wurde, sind es immerhin ungefähr 40.000 Menschen. Zwei junge Frauen, beide Anfang dreißig, stehen zurückgelehnt an ihrem Auto: „Es ist nicht die Linke, die heute gewonnen hat, sondern die Person Mitterrand.“ Darüber sind sich die Freundinnen einig, allerdings nicht darüber, ob Franois Mitterrand noch die Ideen der Linken vertritt. Doch diese Frage ist an diesem Abend des Sieges fast akademisch. „Natürlich ist das die Linke. Das sehen Sie doch!“ Die 44jährige Frau, eine Jüdin tunesischer Abstammung, strahlt. „Ich war hundertprozentig sicher, daß Franois Mitterrand gewinnen würde. Der Präsident ist ein sehr bedächtiger und geradliniger Mann.“ So wie sie sind es vor allem die Immigranten Frankreichs, also die Bevölkerungsgruppe, die zum großen Teil gar nicht wählen darf, die zum Feiern des Wahlsiegs von Mitterrand hier sitzt. Für den jungen Mann aus Kamerun ist Mitterrand gar „ein Heiliger, ein weiser Mann“, jedenfalls Garant einer ausländerfreundlichen Politik. Auch Christian, ein von den Antillen stammender Franzose, ist „überglücklich, weil wir in einem Land leben, das nicht völlig unbewußt ist“. Und der marokkanische Würstchenverkäufer beteuert, „Mitterrand und nicht der Einnahmen wegen“ da zu sein. Wie es auch sei, sein Geschäft läuft hervorragend. Immer wieder ziehen Gruppen von der Bastille zur Place de la Republique, dem „Symbol der Nation, der Republik“, wie jemand feinsinnig den unterschiedlichen Symbolwert gegenüber der Bastille erklärt. Und seltsam, da scheint es tat sächlich eine nationale Einheit zu geben: Ob es die Jünger vom Rechtsradikalen Le Pen oder die Fans vom Sozialisten Mitterrand sind, alle politischen Lager laufen hinter der Tricolore, der französischen Fahne, her. Rote Fahnen sind nur sehr vereinzelt zu sehen, aus dem ersten Stock eines Hauses an der Straße weht eine große herunter. Die Vorbeiziehenden meinen, dazu befragt, mehrheitlich, daß ihnen die rote Fahne lieber sei als die nationale. Doch ein linker Wahlsieg? Immerhin, die wahltaktisch getimte Geiselbefreiung im Libanon und der mörderische Blitzschlag in Neu–Kaledonien, der den Tod von 15 Kanaken zur Folge hatte, schei nen Mitterrands rechtem Gegner Chirac keine Sympathien eingebracht zu haben. Selbst die FKNS, die Befreiungsfront der Kanaken in Neu–Kaledonien, marschiert mit eigener Fahne im Menschengetümmel mit. Alle anderen lassen sich treiben, unkoordiniert. Am meisten drängeln sich die Menschen an der Republique. Dort ist eine riesige Video–Leinwand aufgebaut, von der Mitterrands Rede und ein vor kurzem stattgefundenes Solidaritätskonzert übertragen wird. Auf Tribünen heizen Musikgruppen rhythmisch ein, Menschen tanzen in Gruppen. Jugendliche sind auf die Verkehrsschilder geklettert und skandieren gegen das Autogehupe an: „Chirac, hau ab und nimm auch Pasqua französischer Innenminister, d.Red. mit!“ Auch wenn nicht so viele Menschen zusammengekommen sind wie 1981, die Erleichterung ist offensichtlich, die Freude groß. „Vielleicht größer als 1981“, sagt Said, der Würstchenverkäufer. „Damals war der Rassismus noch nicht so stark“, meint er und erklärt damit, warum so viele Ausländer unter den siegestaumelnden Jubilierern sind. Die vom Nationalisten Le Pen im ersten Wahlgang erreichten 15 Prozent hatten sie enorm erschreckt. In Mitterrand haben sie - unabhängig davon, welches oder ob er überhaupt ein politisches Programm vertritt - eine Identifikations– und Vertrauensperson gefunden. „Die Rechte und die Linke, das sind Begriffe, die die Leute heute anöden“, hatte Christian erklärt. „Was die Leute wollen, ist jemand, der tolerant und kompetent zum Regieren ist.“ Das ist für ihn Mitterrand, der ist „superb“, „das fühle ich“, sagt Christian. Sein Vertrauen, daß Mitterrand die gespaltene Rechte und die davon profitierende Front National von Jean Marie Le Pen schon in den Griff kriegen wird, ist am Sonntag abend grenzenlos. „Selbst wenn sich die Franzosen hinsichtlich bevorstehender Wahlen um die Rechte sammeln, das dürfte Mitterrand doch nicht stören.“ Sabine Seifert