Kritik an Allmacht Gorbatschows

Krach auf der Allunionskonferenz: Delegierter ausgebuht, Redezeitbeschränkung beschlossen / Reformer greifen Gorbatschow an und kritisieren Machtfülle bei Präsidenten / 'Moskau News‘ gegen Personenkult  ■  Von Erhard Stölting

Berlin (taz) - Die Stimmung im Sitzungsaal während der 19. Allunionskonferenz der der KpPdSU in Moskau war bisher alles andere als langweilig. Wladimir Smirhow aus Leningrad wandtze sich gegen Gorbatschows Forderung nach einer Entlassung „unwürdiger Mitarbeiter“. Solche Parolen könnten zu einer Kampagne ausarten, und außerdem müsse jedes Parteimitglied die Möglichkeit haben, sich in der Perestroika zu bewähren. Aber die Stimmung war für die Konservativen bisher nicht günstig. Schon am Dienstag wurde der Delegierte Beljaninow, ein Sekretär des Moskauer Stadtparteikomitees, niedergebuht: Er habe keine eigenen Einschätzungen vorgebracht, sondern „leeres Stroh gedroschen“. Ein Antrag, daß „Lobeshymnen“ von jetzt an unterbleiben sollten, kam glatt durch. Auch eine Redezeitbeschränkung wurde eingeführt. Trotzdem scheint eine Verlängerung der Konferenz über den Freitag hinaus nicht ausgeschlossen. Immerhin wollen hundert der 5.OOO Delegierten zu Wort kommen.

Kritik an Gorbatschow kam auch aus seinem eigenen Lager. Der Wirtschaftsfachmann Leonid Abalkin, ein bekannter Reformer, kritisierte am Dienstag den Vorschlag Gorbatschows, die Parteichefs auf allen Ebenen auch zu Vorsitzenden der örtlichen Sowjets zu küren. Das vertrage sich nicht mit der Absicht, eine deutlichere Trennung zwischen Partei und Staat durchzusetzen. Vor allem sei Gorbatschows undemokratische Absicht zu tadeln, neben dem Amt des Generalsekretärs der KPdSU auch noch das des künftighin mächtigen Staatschefs zu übernehmen. Auf einer Pressekonferenz am Dienstag interpretierte das Politbüromitglied Alexander Jakowlew, ein enger Vertrauter Gorbatschows, diesen Vorschlag ganz anders. Die Position der jeweiligen Parteichefs werde zwar gestärkt. Als Vorsitzende der Sowjets sollten sie aber geheim gewählt werden. Die Parteichefs könnten dabei ja auch durchfallen. Dann müsse sich die jeweilige Parteiorganisation überlegen, ob sie ihren Chef wieder absetzen soll. Die Partei stünde also unter einem verstärkten Einfluß von außen. Das gleiche gelte auch für Parteichef Gorbatschow, falls er überhaupt für das Staatsamt kandidiere. Der Bürgerrechtler und Physiker Andrej Sacharow war bei dieser Pressekonferenz der einzige Nichtjournalist, der Zutritt hatte.

Problematisch erscheint die mögliche Machtkonzentration an der Spitze auch dem journalistischen Flaggschiff der Reformer,... Fortsetzung auf Seite 2

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... den Moscow News (Moskowskije Nowosti). Keinem Parteichef nach Lenin sei es bisher gelungen, sich dem spätestens nach fünf Jahren einsetzenden Personenkult zu entziehen, so das Blatt am Dienstag. Dieser Kult sei aber ein „sehr ernsthafter Risikofaktor für den Sozialismus“.

Ein anderer Risikofaktor sorgte am Mittwoch für Aufsehen. Ein Ausschuß der Konferenz, der sich mit Fragen der Parteierneuerung befaßt, beschuldigte Delegierte der Sowjetrepublik Usbekistan, in einen riesigen Korruptionsskandal verwickelt zu sein, der seit fünf Jahren am Kochen ist und in den 18.000 Parteimitglieder und 100 Parteikader verwickelt sind. Sie hatten sich insgesamt drei Millionen Rubel (ca. neun Mio. DM) im Baumwollgeschäft ergaunert. Der usbekische Parteichef Refik Nischanow wiegelte ab: Die Anschuldigungen seien bisher nicht bewiesen.

Kritik gab es am Dienstag auch außerhalb des Konferenzgebäudes. Auf dem abgesperrten Puschkinplatz wurden zweihundert Krimtataren, die ein Rückkehrrecht in ihre Heimat forderten, in Busse geschoben und weggefahren. Die Polizisten versicherten zwar, daß die Demonstranten an anderer Stelle wieder freigelassen würden.

Dennoch bekamen sie von Umstehenden Zurufe zu hören, wie „faschistische Idioten“ oder „Gestapo“. Einige Straßen weiter wurden auf dem Puschkinplatz sieben Mitglieder der „Demokratischen Union“ festgenommen. Diese Organisation wurde Anfang dieses Jahres gegründet und erstrebt ein parlamentarisches Mehrparteiensystem nach westlichem Vorbild. Ein solches System hatte Gorbatschow auf seiner Kongreßrede gerade ausgeschlossen. Fünf der sieben Verhafteten wurden am Mittwoch morgen bereits zu mehrtägigen Haftstrafen bzw. Geldbußen verurteilt. Die anderen sollen später vor Gericht gestellt werden.