Aktuelle Vergangenheit

■ Des deutschen emigrierten Indologen Max Müller Beitrag zur Nationwerdung Indiens

Stephan Wackwitz

Ankunft auf dem Flughafen Delhi. Eine Stunde lang Schlange stehen. Schließlich blättert der Paßbeamte sorgfältig und mißtrauisch in meinen Einreisepapieren. Mühsam entziffert er, den Finger im Paß. Als meine Anlaufstelle in Indien ist das „Max Müller Bhavan“ angegeben. Seine Miene hellt sich auf und er fragt sofort, ob ich Sanskrit könne. „Good man, Max Müller“. Er entläßt mich in die indische Nacht, die nach Rauch und Staub riecht. Ein Zauberwort ist gefallen. Aber was bedeutet es?

Max Müller ist in Indien der bekannteste, ein fast geliebter Deutscher. Es gibt in Delhi eine große Avenue, die nach ihm benannt ist. Die Goethe-Institute heißen hier Max Müller Bhavans. Max Müller ist der Schutzheilige der deutsch -indischen Beziehungen. Wer, um alles in der Welt, ist Max Müller?

Es war einmal, im späten 18. Jahrhundert eine Generation junger Intellektueller, der hingen die Weimarer Kulturrepräsentanten zum Halse heraus. Die Französische Revolution schien alle denkbaren Lebensmöglichkeiten eröffnet zu haben. Eine neue politische Ordnung stand so deutlich am Horizont wie eine neue Liebesunordnung. Und dort am Horizont, wo alle Dinge hoffnungsvoll aussehen, blieben sie auch stehen. Alle Annäherungsversuche führten nur tiefer in den eigenen Kopf hinein. In dieser Situation zwischen Hoffnung und Enttäuschung suchte die Generation der Romantiker, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, der junge Joseph Görres und Ludwig Tieck, eine „objektivierende“ Anbindung ihrer spekulativen geschichtsphilosophisch -ästhetischen Utopien an eine historische, möglichst vorbürgerliche Lebensform nach dem Vorbild der Klassik, die solche Rückversicherung in Griechenland gefunden hatte. Novalis und Schlegel fanden Sie schließlich im Katholizismus. Eine wichtige Station auf dem Weg dorthin war das romantische Bild Indiens.

„Kennt ihr das Land, wo die schönen Bilder lebten und wandelten, die tief in unserer Seele wie ferne Schatten schweben und in ihrer Ferne noch uns mit unendlichem Reize an sich ziehen und als Ideale über allem unserem Tun und Bilden stehen und ein unnennbares Sehnen wie nach der fernen Liebe in uns wecken? Nach dem Morgenlande, an die Ufer des Ganges und des Indus hin, da fühlt unser Gemüt von einem geheimen Zuge sich gezogen, dahin deuten alle die Ahnungen, die in seinen Tiefen liegen, und dahin gelangen wir, wenn wir dem stillen Strome, der in alten Sagen und heiligen Gesängen durch die Zeiten fließt, bis zur Quelle folgen.“ (Joseph Görres)

Die Sanskrit-Studien, die jetzt in Mode kamen, sollten Ursprungsmythen der romantischen Kulturrevolution liefern. Aus Indien stammte die älteste Literatur, die Veden der Arier. Das Studium dieser Texte sollte nachweisen, daß „Poesie die Muttersprache des menschlichen Geistes“ sei, wie Hamann zwei Generationen zuvor formuliert hatte. Hier schien der Ort gefunden, wo die poetische Innenwelt eine greifbare Außenwelt, die Literatur wahr gewesen war. Revolutionstourismus

Allerdings beherrschte etwa Friedrich Schlegel, der bekannteste und einflußreichste romantische Indienforscher, das Sanskrit so gut wie ein versetzungsgefährdeter Oberschüler Latein, und er verlor auch schnell die Lust, es sehr viel besser zu lernen. Die Veden, soweit sie in Europa zugänglich waren, entpuppten sich als ein schwer zu durchdringendes Gestrüpp aus Zaubersprüchen, Opferliturgien und Weisheitslehren. Es gab zwar viel Interessantes zu entdecken, aber der erwartete „kick“ blieb aus, die Erleuchtung, die das Geträumte plötzlich wahr und das Historische aktuell gemacht hätte.

Dieser Moment der Desillusion kehrt in der Geschichte chiliastischer intellektueller Bewegungen, in der Geschichte exotisch-utopischer Projektionen immer wieder. Er ist zugleich der Moment der utopisch inspirierten und die Utopie eben durch seine Arbeit zerstörenden Gelehrten. Die Parallelen zu den frühen 70er Jahren drängt sich auf. Dem Revolutionstourismus folgte damals die Kapitalexegese. In Friedrich Schlegel hat man einen Hans Magnus Enzensberger der Romantik gesehen. Max Müller, der große Indologe, wurde ihr Wolfgang Fritz Haug..

Er war ein wissenschaftliches Wunderkind und wurde ein Star der Philologie, die damals dasselbe Prestige und dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit genoß wie die Soziologie vor 20 Jahren oder heute die Biologie. Geboren ist er 1832 in Dessau. Sein Vater war der zu seiner Zeit berühmte philhellenische Lyriker, der „Griechenmüller“, auch Textautor der „Winterreise“ von Schubert.

Nach 18 Monaten Studium der Altphilologie, noch keine 20 Jahre alt, promovierte er in Leipzig und wandte sich sofort dem Studium des Sanskrit zu. Hermann Brockhaus, der Orientalist und Lyriker Rückert, der Komparatist Friedrich Bopp und der alte Schelling waren seine Lehrer. In Paris erlebt er die Junirevolution. In London, wo er gleichzeitig mit Marx im Lesesaal des Britischen Museums sitzt, findet er die Protektion des preußischen Gesandten von Bunsen, eines gebildeten Dilettanten, der davon geträumt hatte, in Indien die vedischen Urtexte zu finden und zu übersetzen. Er nahm dem jungen Max Müller, der sich auf eigene Faust wie ein Archäologe in den Bibliotheken von den jüngeren vedischen Texten in die literarische Vorzeit zurückarbeitete, alle materiellen Sorgen ab, führte ihn in die Londoner Gesellschaft ein und verschaffte ihm eine Professur in Oxford.

Max Müllers philologische Pionierarbeit hatte im Großbritannien des 19. Jahrhunderts eine konkrete politische Bedeutung. Die ersten Sanskritstudien hatten hier die Kolonialbeamten betrieben mit dem Zweck, die Rechtsvorschriften der Bramahnen besser zu verstehen und ihrer Politik adaptieren zu können. Andererseits galt eine zu intensive Beschäftigung mit Indien als eine Form des „going native“, als eine der Kardinalsünden der Kolonialgesellschaft. Müller, der aus der beschriebenen deutschen Tradition romantischer Indienschwärmerei kam, zugleich aber angetreten war, sie wissenschaftlich exakt nachzuvollziehen und damit aufzulösen, konnte sich in etwas einfühlen, wofür die britische Gesellschaft aufgrund ihrer eigenen Zwänge sich fühllos machen mußte. Er wurde als kulturfremder Experte unentbehrlich. Vedische Urtexte

1849, noch keine 26 Jahre alt, legte er den ersten Band der ersten wissenschaftlich zuverlässigen Ausgabe der Rigveda, des vedischen Mythenbuches vor, eine der großen wissenschaftlichen Leistungen des 19. Jahrhunderts. Bis zu seinem Tod entstand eine 50bändige, von ihm zum Teil selbst besorgte, zum Teil herausgegebene Sammlung der „Sacred Books of The East“, die das Bild der europäischen Philologen von den kolonisierten Gesellschaften und Kulturen revolutionierten. Gleichzeitig wurde Max Müller einer der profiliertesten britischen Publizisten, der wie sein Freund Theodor Fontane, damals noch preußischer Journalist, neidisch vermerkte, die beste Zeitung Europas für seine Analysen der britischen Kolonialpolitik zur Verfügung hatte, die 'Times‘ nämlich, die ihm jederzeit Platz auf der ersten Seite einräumte.

Die wichtigsten Auswirkungen allerdings hatten Max Müllers Bücher und Artikel nicht in England, sondern in Indien selber, wo er zum Geburtshelfer der hinduistischen Nationalbewegung wurde. „Sogar die Ideen, die die Inder über die Errungenschaften ihrer eigenen Zivilisation hegen, sind im wesentlichen Ideen, die ihnen von europäischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts eingeimpft wurden“ schreibt der hellsichtige Indien-Hasser V.S. Naipaul dazu. „Indien allein hätte es nicht fertiggebracht, seine Vergangenheit wiederzuentdecken und zu bewerten. Die Vergangenheit war zu gegenwärtig, sie lebte weiter in den Riten, den Gesetzen und in der Magie - in diesem ganzen komplizierten, instinktiven Leben, das die Reaktionen erstickt und jede kreative Neugier unter sich begräbt.“ Der Volkshinduismus mit seinen unzähligen Kulten und Atavismen war keine geeignete Grundlage für den Nationalismus, eine Bewegung des 19. Jahrhunderts und begleitet von dessen Idealen Rationalität, Kosmopolitismus, Demokratie. Die von Müller zugänglich gemachten Veden, besonders deren philosophisch-esoterische Bücher, die Upanishaden, inspirierten eine hinduistische Selbstverständigungs- und Emanzipationsbewegung um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ramakrishna, Vivekananda Tagore, später Aurobindo und Gandhi kehrten zu den vedantischen Urtexten zurück und propagierten einen abstrakten, meditativen, sozialen, toleranten und philosophisch ernst zu nehmenden Hinduismus, der den nationalen Befreiungskampf überhaupt erst möglich gemacht hat.

Max Müller setzte sich in Büchern, Briefen und Zeitungspolemiken kritisch und loyal mit diesen Bewegungen auseinander. Der Impuls einer chiliastisch -kulturrevolutionären Bewegung in Europa, der Impuls der Frühromantik und ihrer exotischen Idealisierungen wurden so, von Max Müller wissenschaftlich „sublimiert“, zum Moment eines erfolgreichen Befreiungskampfes im fremden Kontext selber. Nie in Indien

Die indische „Neovedanta“ benutzte die von Müller zugänglich gemachten Urtexte zur Selbstbefreiung vom orthodoxen Hindu -Chauvinismus, der jeder nationalen Versöhnung bis heute im Weg steht. Durch die theistischen Bewegungen, durch die Abstraktion vom Ritus wurde der Hinduismus andererseits auch in Europa und Amerika einflußreich. Nicht nur der philanthropische Spiritualismus Aurobindos und Gandhis zehrte von diesen Anstrengungen, sondern auch Hermann Hesse, Rudolf Steiner, Lew Tolstoi, Martin Buber und C.G. Jung sind ihnen verpflichtet, ebenso wie die Protestbewegungen linker Ethik und rechter Erkenntnistheorie, die sich singend und händehaltend vor Raketenbasen niederlassen. Max Müller ist eine Vermittlungsfigur zwischen literarischer und politischer Romantik, zwischen der vedischen Renaissance um 1800 in Europa, der die hinduistischen Texte noch nicht wirklich zugänglich waren und der „Pop-Vedanta“, die sich nicht mehr für sie interessiert, statt dessen aber Hesses „Siddharta“, Salingers „Franny and Zooey“, Bhagwan Shree Rajneesh und Franz Alt gelesen hat. Die Stimmungen, die diese Pop-Vedanta repräsentiert, sind ein oft belächelter, aber nicht zu unterschätzender Teil gegenwärtiger Protestkultur.

Als Max Müller, der selber nie in Indien gewesen war, 1900 in Oxford starb, kondolierten europäische und indische Fürstenhäuser, Professoren und Gurus. Heute ist er im Westen völlig vergessen, ein Symbol für den Verlust an Lernfähigkeit und Interesse auf „unserer“ Seite.

Auf dem Connaught Place in Delhi verrottet die englische Kolonialarchitektur. Ein paar letzte Rajneesh-Sannyasins sitzen auf dem Gras in der Sonne und sind „unheimlich glücklich, du“. Max Müller, ohne den sie gar nicht denkbar sind, kennen sie nicht. Und ein Paßbeamter aus Rajastan oder Bihar, der kaum lesen kann, lächelt einen wildfremden Ausländer strahlend an, wenn er den Namen endlich entziffert hat. In einer Situation, in der sich zwischen der ersten und der dritten Welt nichts mehr bewegt außer Geldströmen und Tourismusflugzeugen, sind solche Erinnerungen an Max Müller Souvenirs einer Zeit, in der Kolonialherren und Kolonialisierte sich noch ins Gesicht sahen und voneinander hörten, manchmal, sehr selten, einander sogar zuhörten.