Wettlauf um die Kolonien im All

■ Insgesamt 48mal sollen die drei US-Shuttles bis 1995 starten / Weitere 80 herkömmliche Raketen sind im Bau oder in der Planung / Damit soll beim Wettlauf im All der angebliche Vorsprung der Sowjets eingeholt werden, die nach jahrelanger Kritik an dem US-Shuttle-Programm Mitte November selbst erfolgreich eine Weltraumfähre ins All geschossen haben

„Es ist rausgeworfenes Geld“, kommentierte Gorbatschows Weltraumberater Roald Sagdeyev den Start der sowjetischen Shuttle „Schneesturm“. Das Shuttle-Programm beider Supermächte sei eine teure Fehlentscheidung. „Sie kommen hoch- und wieder herunter, aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind gleich null“, kritisierte der Wissenschaftler von der Moskauer Weltraum-Forschungsbehörde Mitte November in ungewohnt offener Weise. Normale Raketen sind seiner Meinung nach viel billiger und unkomplizierter, und sie erfüllen den selben Zweck.

Trotzdem soll Schneesturm nächstes Jahr gleich zweimal starten, und zwar wie ihre amerikanischen Schwestern mit einer eigenen Mannschaft, um defekte Satelliten zur Wartung auf die Erde zurückzubringen. Während aber Glasnost auch auf das sowjetische Prestigeobjekt Raumfahrt übergreift, übt sich die amerikanische Konkurrenz in neuen Superlativen: Nach dem heutigen Start von „Atlantis“ sollen die amerikanischen Shuttles in den nächsten beiden Jahren jeweils neunmal starten. Bis 1993 sind gar 48 Flüge geplant.

Trotzdem gleicht sich das Raumfahrtprogramm der Supermächte immer stärker an. Seit der Challenger-Katastrophe hat Reagan sich bekehren lassen und einer Diversifizierung des Weltraumtransportprogramms zugestimmt. Neben den drei Shuttles sollen bis 1995 80 Raketen verschiedener Bauart und Größe einsatzbereit sein. Die Sowjets hingegen, die jahrelang das US-Shuttle-Konzept kritisierten und sich auf den Aufbau einer gewaltigen Raketenflotte konzentrierten, bauten während der letzten zehn Jahre an einem eigenen Shuttle-Konzept. Der Jungfernflug der Raumfähre Schneesturm fand Mitte November statt.

Zweieige Zwillinge

Obwohl die beiden Shuttle-Systeme äußerlich wie Zwillinge erscheinen, unterscheiden sie sich grundsätzlich bei ihren Antriebssystemen.

Bei der US-Raumfähre sind die Haupttriebwerke Bestandteil der Raumfähre. Lediglich in der Startphase werden sie von Zusatzraketen unterstützt, die mit festem Treibstoff angetrieben werden.

Die sowjetische Raumfähre hingegen wird von der 60 Meter großen Trägerrakete „Energija“ bis in die Umlaufbahn befördert. Die zweistufige Rakete wird dabei von vier Zusatzraketen unterstützt. Alle Antriebssysteme arbeiten mit flüssigem Brennstoff. Die eigentliche Raumfähre besitzt nur zwei kleine Düsentriebwerke für Kurskorrekturen beim Flug im All und bei der Landung. Anders als die amerikanische Shuttle kann die sowjetische Trägerrakete, die mit einer Nutzlast von 100 Tonnen die zur Zeit schubstärkste Rakete der Welt ist, wahlweise eine Raumfähre transportieren, aber auch schwere Satelliten und Teile der sowjetischen Raumstation „Mir“. Die US-Shuttle hingegen trägt pro Einsatz lediglich 30 Tonnen Fracht ins All. Ins Gewicht fällt vor allem die Sicherheitsausrüstung für die mehrköpfige Astronauten-Crew.

Der Ritt auf der Bestie, wie ein Astronaut den Flug mit der von 529.000 Liter flüssigen Sauerstoffs und 1,438 Millionen Liter flüssigen Wasserstoffs angetriebenen US-Shuttle nannte, verliert trotz des hohen Prestigewerts beim Wettlauf ins All an Bedeutung. Mit der Rückkehr zu den normalen Raketen versucht das US-Weltraum-Management der sowjetischen Konkurrenz den Vorsprung streitig zu machen, den sie sich nach Ansicht vieler Experten erkämpft hat. Ihre Kosmonauten in der Raumstation Mir stellen einen Rekord nach dem anderen auf für den längsten Aufenthalt eines Menschen im All.

Am 21. Dezember dieses Jahres kehrt ein sowjetischer Astronaut nach einem einjährigen Aufenthalt in der sowjetischen Raumstation, die seit Februar 1987 ständig besetzt war, auf die Erde zurück. Die Sowjets haben die stärkste Trägerrakete und allein im letzten Jahr 95 Raketen ins All geschossen - die USA acht. Andererseits war die US -Raumstation „Spacelab“, die 1973 eingerichtet, aber schon 1976 wieder aufgegeben wurde, größer und besser ausgerüstet als Mir heute. Die USA besaßen bereits 1967 eine ähnlich starke Trägerrakete wie die Energija. Ihre Produktion wurde jedoch 1975 eingestellt. Unbemannte Forschungssonden der USA haben inzwischen jeden Planeten unseres Sonnensystems außer Venus und Mars besucht. Sowjetische Sonden erreichten bislang nur Venus und Mars.

Bis 1995 will die US-Regierung eine Raumstation im All installieren, an die westeuropäische, japanische und kanadische Komponenten angekoppelt werden sollen. Am 29. September dieses Jahres unterzeichneten die Regierungen der westlichen Länder, darunter die Bundesregierung, ein Abkommen über den Bau der Raumstation „Freedom“.

Militärische Nutzung

Strittig war die Führungsrolle der Nasa und die Möglichkeit, die Raumstation auch für militärische Zwecke zu nutzen. Die Kompromißformel, die zum Schluß gefunden wurde, unterstreicht den friedlichen Charakter des Vorhabens allerdings darf jedes Land oder jede Ländergruppe in seinem Bauteil tun und lassen, was es will. Im Wettlauf um die ökonomische und militärische Vorherrschaft im All sind alle Mittel recht - vor allem um die irdische Bevölkerung von der Wichtigkeit des Unternehmens zu überzeugen. Auf große Profite hoffen die Sternenfahrer durch industrielle Produktion in der Schwerelosigkeit des Alls und durch die Entdeckung und Ausbeutung neuer Rohstoffe auf fernen Planeten. Bislang sind die Abenteuer jedoch lediglich kostspielig: Die Nasa verschlingt jährlich 10,6 Milliarden Dollar. Diese Summe soll jetzt verdoppelt werden, da ansonsten der Vorsprung der Sowjets im „space race“, wie die Expertengemeinde warnt, nicht aufzuholen ist. Strittig ist nur, für was die Weltraumdollars ausgegeben werden sollen.

Populär ist die Idee eines bemannten Ausflug zum Mars, eventuell sogar zusammen mit den Sowjets. Nur im Weißen Haus scheint man sich mit diesem Vorschlag Gorbatschows noch nicht angefreundet zu haben.

Realistischere Weltraumfans befürworten dagegen den langsamen Aufbau einer Infrastruktur im All, mit deren Hilfe man dann besser gerüstet Projekte wie einen Marsflug angehen könnte. Doch selbst für den Bau einer Raumstation ist nicht genügend Geld vorhanden. Und über den wirklichen Nutzen einer permanenten Behausung im All gibt es nur Andeutungen. Trotzdem halten die Sternenfahrer systemübergreifend an ihrer Vision fest, im nächsten Jahrtausend Mond und Mars zu kolonisieren und mit riesigen künstlichen Trabanten auf die Suche nach den unbekannten Brüdern und Schwestern in fernen Sonnensystemen zu gehen.

Michael Fischer