Das Phantom der Oper

■ Streit um die „Opera Bastille“ in Paris

Sabine Seifert

„Da man sagt, daß die Plätze in der Oper dasselbe kosten sollen wie bei einem Fußballspiel, ist es auch normal, daß man uns dasselbe zahlt wie den Fußballern...“ (Daniel Barenboim am 22.1.89 im französischen Fernsehen).

„Was mich betrifft, so wird immer noch jenes 'Man muß die Opernhäuser in die Luft sprengen‘ wiedergekaut. Überschrift eines Interviews, das mehr als 20 Jahre zurückliegt und dessen humoristischer Inhalt sich längst verflüchtigt hat.“ (Pierre Boulez am 1.2.89 in 'Le Monde‘)

Kein Opernhaus ist in die Luft gegangen, aber ein neues wird erbaut. In der Größe eines ganzen Häuserblocks erstreckt sich die Anlage der neuen „Opera Bastille“ an geschichtsträchtiger Stelle. Ein kleiner Triumphbogen umrahmt den Treppenaufgang zu dem halbrunden Vorderbau des Opernhauses aus Stein, Glas und Stahl, konzipiert von dem kanadischen Architekten Carlos Ott. Der Bogen wirkt wie eine Attrappe des Kubus, der als neuer „Triumphbogen der Menschheit“ im Hochhausviertel La Defense errichtet wird.

Bis zur endgültigen Fertigstellung des ehrgeizigen Projektes am 14.Juli 1989 werden sich die Baukosten der Opera Bastille auf etwa 2,6 Milliarden Francs (d.h. 750 Millionen Mark) belaufen haben. Der jährliche Unterhaltszuschuß soll etwa 100 Millionen Mark jährlich betragen und verschlingt damit in etwa die Hälfte des für Musik veranschlagten Budgets des Kultusministeriums. Das Vorzeigeprojekt des Staatspräsidenten Fran?ois Mitterand für die Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution wurde deshalb stets mit dem Vorhaben einer „Volksoper“ - mehr Plätze und Vorstellungen, niedrigere Eintrittspreise legitimiert.

Auf dem Papier macht und rechnet sich das gut. Der große Saal der neuen Oper faßt 2.700 Personen, mit einem Plus an Eintrittsgeldern kann also gerechnet werden. Die moderne technische Ausstattung (neben der Hauptbühne gibt es noch vier kleinere) soll ein alternierendes Modell, wie es in Frankreich sonst nicht üblich ist, gestatten: Im Nebeneinander von Proben und Aufführungen sollten außerdem stets mehrere Stücke auf dem Spielplan stehen.

Doch der noch von der alten Chirac-Regierung berufene künstlerische und musikalische Direktor, der israelische Dirigent und Pianist Daniel Barenboim, seit 1975 Leiter des „Orchestre de Paris“, fühlt sich nicht berufen, diese kulturpolitische Kopfgeburt künstlerisch einzulösen. Statt auf Quantität setzt er auf Qualität, engagiert in Festival -Manier die namhaftesten Dirigenten und Regisseure (Karajan, Solti, Boulez, Mehta als Dirigenten; Kupfer, Stein und Chereau als Regisseure), präsentiert Opern von Mozart, Wagner, Zimmermann und Debussy als Programm (statt eines „populären“ Verdi oder einer noch populäreren „Carmen“) und erklärt, zunächst statt der geforderten 220 Vorstellungen pro Jahr vorläufig nur einen Teil davon sichern zu können. Soviele Vorstellungen aber sind notwendig, um die Preise rentabel und preiswert gestalten zu können.

Barenboim und seine künstlerisch-technischen Berater nennen Gründe für ihre konzeptionelle Entscheidung. Ein so riesiges Haus ließe sich nicht von einem Tag auf den anderen voll in Betrieb nehmen: Technische Mannschaft, Chor und Orchester müssen erst noch formiert werden. Repertoire aus der alten Oper zu übernehmen, dem „Palais Garnier“, hält Barenboim für unverträglich mit einer neuen, modernen Oper.

Größter Streitpunkt ist das Alternierungsmodell, wie es auch in der Bundesrepublik gang und gäbe ist. Ein rasches Neben- und Nacheinander von Proben (für neue Stücke und Repertoire) sowie Aufführungen hält Barenboim der musikalischen Qualität für abträglich: kein Verschnitt also aus „Aida“ morgens, „Carmen“ mittags und am Abend dann „Tosca“ wie im amerikanischen System. Außerdem gibt es zwar mehrere Probebühnen, jedoch nur eine Hauptbühne mit Lichtmaschinerie und Schnürboden. Der Aktionsradius wäre also trotz modernster Technik eingeschränkt.

Der Vorwurf gegen Barenboim geht weiter, zum elitären Programm gesellt sich der elitäre Verdienst. Warum auch kein „Jahrhundertvertrag für ein Jahrhundertbauwerk“? Ein noch von der Chirac-Regierung ausgehandelter Vertrag hatte Barenboim bei nur vier Monaten Anwesenheitspflicht zwei Millionen Mark jährliches Einkommen garantiert, die er zudem noch günstig hätte versteuern können. In den Sommermonaten dirigiert er in Bayreuth, gleichzeitig verhandelt Barenboim

-erfolgreich, wie sich jetzt herausgestellt hat - mit dem Chicagoer Symphonieorchester.

Es wird gefeilscht um Konzept, Geld und künstlerische Macht. Der von den Sozialisten 1988 wieder benannte Kulturminister Jack Lang setzt Barenboim einen Kontrolleur vor die Nase: Pierre Berge, bis dahin Generaldirektor bei Yves Saint-Laurent, wird zum Vorstand und Koordinator aller drei (!) Pariser Opernhäuser berufen. In der Gehaltsfrage hätte Barenboim wohl nach-, nicht jedoch von seiner Allmacht als „künstlerischer und musikalischer Direktor“ abgegeben. Am 13.Januar dieses Jahres kommt es endgültig zum Bruch. Barenboim wird entlassen. Das Nachspiel ist Sache der Anwälte.

Aber Barenboim ist nicht der erste, der geht - und nicht der letzte. Berge hatte peu a peu Barenboims Mannschaft ausgetauscht. Clan gegen Clan. Gleichzeitig erklären sich die Künstlerkollegen mit Barenboim solidarisch. Ist das Beste nicht gerade gut genug für eine „Volksoper“? Allen voran hat Patrice Chereau bereits im November mit einem Artikel in 'Le Monde‘ das Wort ergriffen: „Es ist demagogisch zu behaupten, die Opera Bastille könnte übers Jahr verteilt problemlos 750.000 Plätze füllen. Nur um den Preis einer grauenhaften Minderung der szenischen und musikalischen Produktionsqualität könnte man diese horrenden 750.000 Plätze voll bekommen.“

Chereau war von Kulturminister Lang zum Theaterleiter in Nanterre ernannt worden und hatte es ihm wie die meisten der links-arrivierten Künstler bisher mit Loyalität gedankt. Er hätte die eigentliche Eröffnung der Opera Bastille mit „Don Giovanni“ am 10.Januar 1990 machen sollen. Aber auch Pierre Boulez, als Komponist, Dirigent, Leiter eines Musikinstitutes (IRCAM) und des „Ensemble Intercontemporain“ die musikalische Eminenz der französischen Hauptstadt, von Beginn an Berater für das Opernhaus-Projekt, hat sich aus dem Berge-Vorstand zurückgezogen.

Er wird aber weiterhin für die Planung des kleineren, variablen Saals (zwischen 400 und 1.300 Plätzen) zuständig sein, der der zeitgenössischen Musik vorbehalten ist. „Boykotte sind dazu da, daß sie gebrochen werden. Es ist unsinnig, sie erst anzufangen“, erklärt er. Seine Konzeption der Opera Bastille geht weit über die eines einfachen Opernhauses hinaus. Ähnlich wie das Centre Pompidou soll der große Gebäudekomplex mit einer Bibliothek, einem computerisierten Archiv und den Spielplan begleitenden Veranstaltungen ganztags für das Publikum geöffnet werden.

Berge und das Kulturministerium haben kühl gerechnet, der Vertragsbruch mit Barenboim kommt sie billiger. Denn die hohe Besetzung hätte auch hohe Gagen gekostet. Empfindlich schrien sofort nach Barenboims Entlassung und der breiten Solidarisierung berühmter Kollegen wie Herbert von Karajan, Zubin Mehta oder Georg Solti die Plattenfirmen auf, sie hätten bereits Aufzeichnungen mit jenen Dirigenten geplant. Achselzuckend verkündet daraufhin Opernhaus-Vorstand Berge im französischen Fernsehen, es gebe auch unbekannte Künstler - für Plattenfirmen weniger verkaufsträchtig.

Aber auch fürs Publikum nicht attraktiv, sagt der ehemalige Opernhaus-Intendant Max Liebermann: „Ich habe es so verstanden, daß der neue Präsident (Berge, d.A.) weniger Stars einladen will, weil das sehr teuer ist. Das ist falsch gedacht: In der Kunst gibt es keinen Kompromiß. Was auf der Bühne und im Orchestergraben passiert, muß jeden Abend erster Klasse sein, sonst popularisiert man überhaupt nichts, weil die Leute nicht kommen.“ Es gibt allerdings Opernhäuser - in Frankreich wird dafür immer wieder der Genfer Leiter Hugues zitiert -, die erste Klasse mit unbekannten Leuten liefern. Ihr Name steht für Qualität.

Die Pariser Kulturbürokraten haben Zahlenkolonnen aufgestellt. Aber wer im Detail gut rechnet, kann sich grundsätzlich verkalkulieren. Nur der politische Wunsch zu renommieren, gibt sich so naiv, mit einem der größten und teuersten Opernhäuser der Welt möglichst billig produzieren und verwalten zu können. Viel Technik erfordert viel Aufwand, die neue Oper ist zweimal so aufwendig wie die alte, sagt ein Funktionär aus dem Kulturministerium.

Auch Ex-Intendant Liebermann ist zornig. Es sei mehr als eine Schande, die alte Oper aufzugeben und sie ausschließlich dem Ballett zu widmen. Tanz wäre auch keineswegs billiger zu machen, wie man hoffen würde. Das Gesamtbudget der Opernhäuser wird für das Jahr 1990 auf 450 Millionen Francs (150 Millionen Mark) taxiert.

Oper ist kostspielig, ihre feudale (und auch bildungsbürgerliche) Tradition hat sie nicht umsonst: Chor, Orchester, Kostüme. Von den Stars nicht zu reden, ohne die es vielleicht ginge. Wie also läßt sich Oper demokratisieren, popularisieren - was nicht dasselbe ist? Ein solches Mißverständnis mag es zwischen Politikern und Künstlern im Fall Opera Bastille gegeben haben. Staatspräsident Mitterand hatte jedenfalls die eigene Popularität im Auge. Ein Bürgerkönig, der zu repräsentieren weiß.

Werden sich drei Opernhäuser Abend für Abend in Paris füllen lassen? Neben der Opera Bastille, die der Oper, und dem Palais Garnier, der dem Ballett und Konzert vorbehalten sein wird, gibt es noch die „Salle Favart“, die Komische Oper, deren zukünftige Bestimmung unklar ist. Die Pariser hat niemand gefragt, ob sie eine Volksoper wollen.