THEATER AUF LEBEN UND TOD

■ Die südafrikanischen „Mamu-Players“ mit dem Musical „Township Boy“ im Haus der Kulturen

„Es lebe Mandela, es lebe Südafrika.“ Wild stampfend tanzen und singen die Beerdigungsteilnehmer zum Friedhof. Dann: ein Schuß. Shepherd fällt getroffen zu Boden. Der „Township Boy“ aus Soweto ist tot, erschossen von schwarzen Schergen des Apartheidregimes. Seine Freunde und Verwandten stürzen sich auf den Toten, klagen und weinen.

Jedes Begräbnis führte in diesen turbulenten und gewaltsamen Tagen im September 1986 zu neuen Begräbnissen. Die südafrikanischen Townships waren zerrissen von Kämpfen zwischen jugendlichen Comrades und sogenannten Vigilantes, rechten Gruppen, die mit dem Apartheidregime kollaborierten. Es war die Zeit des „Necklacing“, wenn vermeintlichen Verrätern ein mit Benzin getränkter Autoreifen über den Kopf gestülpt und angezündet wurde.

Bequem im Sessel zurückgelehnt, verfolgt das Publikum, dessen Kleidung und Alter auf postmoderne Leidenschaftslosigkeit schließen läßt, den Ausnahmezustand bis heute Alltag des schwarzen Südafrikas. Tief unten im sicheren Bauch der „schwangeren Auster“, dem „Haus der Kulturen der Welt“, wie die 1980 eingestürzte Kongreßhalle heute etwas umständlich heißt, wird das südafrikanische Musical „Township Boy“ aufgeführt. Es ist Straßentheater aber nicht im europäischen Sinne: Gerade das Laienhafte der wild agierenden Schauspieler läßt die schwarze Wirklichkeit der Straßen der südafrikanischen Townships lebendig werden. Allerdings könnte auch der Unterschied zwischen Schauspielern und Publikum kaum größer sein. Distanziert -fasziniert erfreuen sich die modernen BildungsbürgerInnen an ursprünglicher Lebendigkeit und afrikanischer Direktheit.

Shepherd erscheint als Geist bei seiner eigenen Beerdigung am Anfang des Stücks, das in Diepkloof, einem Stadtteil von Soweto, spielt. Er stellt seine Mutter Stumile vor, seine Freundin Hilda und seine Tante Maria, die zur Freude des Publikums meistens betrunken ist. Dann macht er seine Freunde bekannt, mit denen er in der Township-Band „Mamu and the Mamuhees“ spielt. In Rückblenden beschreiben sie, unter welchen Umständen sie sich kennenlernten - auf der Flucht vor Polizisten, bei Aktionen für den Mietboykott, während eines „Necklacing„-Versuchs. Hilda und Shepherd wollen heiraten, sie hat Angst und will mit ihm zu ihrem Onkel aufs Land flüchten. Da wird einer seiner Freunde erschossen. Shepherd weigert sich abzuhauen. Er schlägt alle Warnungen in den Wind und geht zu der Beerdigung, wo auch er erschossen wird.

Der Besuch von Beerdigungen ist für viele Schwarze in Südafrika aus religiös-mystischen Gründen obligatorisch. Wegzubleiben bedeutet den Verlust des allgegenwärtigen Schutzes der Ahnen. Außerdem sind unter dem Ausnahmezustand Beerdigungen die einzige Möglichkeit, gegen die Apartheidpolitik öffentlich zu demonstrieren. Der weiße Regisseur Christo Leach des ansonsten schwarzen Ensembles sagt dazu: „Wir versuchten, diese sinnlose Verschwendung von Leben und den Wahnsinn dieser grauenhaften Zeit zu zeigen. Ich machte mir Gedanken über den Ausnahmezustand und die Rolle des Theaters speziell in Südafrika.“ Nach den Worten des Hauptdarstellers und Autors des Stücks, John Moalusi Ledwaba, soll das Stück aufklären: Vieles, was wegen der südafrikanischen Zensurbestimmungen weder dort noch hier öffentlich gemacht werden kann, passiert auf der Bühne. Aufgeführt wird das Stück in progressiven Theatern, in Kirchen, Schulen und Gemeindehäusern der Townships. Es gibt kein geschriebenes Skript, da sonst die Zensurbehörde einschreiten könnte. Aus dem Zwang zur Flexibilität haben die Schauspieler eine Tugend gemacht. Sie spielen sich selbst. Eine Trennung zwischen dem Stück und ihrem eigenen Leben, so scheint es zumindest für den europäischen Betrachter, gibt es nicht.

Das Theaterprojekt begann 1986 in dem alten Minenarbeiterdorf Crown Mines in der Nähe von Johannesburg. Die kleine Gemeinde war von den Apartheid-Strategen vergessen worden. Schwarze und Weiße lebten und arbeiteten zusammen - und machten Musik, bis das Dorf zerstört wurde. Aus dieser Tradition entstand das Musical, dessen afrikanisch-jazzige Musik sich dynamisch einfügt in die Geschichte des Stücks. Teejay, der junge kräftige Comrade, bringt ganz Soweto auf die Bühne, wenn er den Toi-Toi-Tanz stampft. Am kraftvollsten sind aber die Frauen, vor allem, als sie zum Schluß über Shepherds Leiche gebeugt ihren Haß und ihre Trauer hinaussingen:

„Was für eine Lüge, Südafrika. Du blubberst die ganze Zeit nur Mist. Ich sah dich neulich im Fernsehen. Du sprachst von Reformen und Veränderungen. Ich schaute durch die Fenster des Hauses. Ich sah die Polizei kommen, um uns rauszuwerfen. Sie eröffneten das Feuer. Und 27 weitere starben.

Ich hörte heute morgen im Radio: 'Zusammen bauen wir eine schöne Zukunft.‘ Auf dem Weg zur Arbeit sah ich durch das Fenster des Busses Soldaten, Panzer, Lastwagen. Sie marschieren durch unsere Townships. Sie ermorden unsere Kinder.

Du regierst nur mit Gewalt. Du regierst nur durch Folter und Verhaftung ohne Anklage. Du regierst nur mit Waffen. Aber wir haben widerstanden. Wir haben überlebt. Alle Macht dem Volke.“ Amandla!

Michael Fischer

Noch bis Samstag täglich um 20 Uhr im Haus der Kulturen der Welt in der Kongreßhalle.