Stalins Geburtstag

 ■  QUERSPALTE

E Gsätz isch e Gsetz“, sagte mein Sozialkundelehrer immer, wenn er seine Schüler in die Geheimnisse des politischen Lebens einführte. Bisher konnte man diesem Spruch bedingungslos vertrauen. Jetzt nicht mehr ohne weiteres.

In Ungarn hat das Parlament soeben ein Gesetz abgeschafft, das alljährlich zu Stalins Geburtstag pompöse öffentliche Feierlichkeiten anbefahl. Nun weiß man ganz allgemein, daß dieses große Ereignis seit langem nicht mehr festlich begangen wurde. Aber wo ist es geblieben? Sollte es sein, daß das Fest einfach nicht mehr gefeiert wurde, daß der ungarische Staat seine eigenen Gesetze brach? Dagegen spricht, daß es jetzt abgeschafft wurde. Denn wenn es sowieso nicht beachtet wurde, wozu dann die parlamentarischen Mühen?

Wahrscheinlicher ist also, daß gefeiert wurde - auch öffentlich, wenn auch weniger pompös. Es sollte ja nicht auffallen. Am fraglichen Tag wurden die Hausmeister vieler nicht aller - öffentlicher Gebäude aufgefordert, frischgewaschene Fahnen aufzuziehen. Viele Menschen trafen sich heimlich und prosteten einander zu. Danach drangen sie auf die Straße und gröhlten Lieder - aber zur Tarnung keine revolutionären. Wenn sie in der Ausnüchterungszelle saßen, verrieten sie nichts. Am schwierigsten war die Lage der Funktionäre. Viele von ihnen waren ja gegen diese Feierei und sie wäre ihnen peinlich gewesen, wäre sie bekannt geworden. Also versammelten sie sich hinter zugezogenen Gardinen, um dem Gesetz unwillig Genüge zu tun.

Jetzt ist endlich alles anders. Es ist nicht mehr verboten nicht zu feiern.

Ein bohrender Zweifel aber bleibt: Sollte die Abschaffung des Gesetzes doch nur heißen, daß er eh nicht beachtet wurde. Dann hätte mein Freund Dieter Recht, der meinen Sozialkundelehrer darauf hinwies, daß man Gesetze auch übertreten kann. Er bekam damals eine Rüge, und auch ich habe eine solche Auffassung immer verabscheut. Sie wäre schließlich auch in sich widersprüchlich. Denn ein Gesetz, das allgemein nicht beachtet wird, ist keines mehr; und dann bräuchte man es auch nicht abzuschaffen.

Erhard Stölting