„Alle Macht den Räten“

■ Ernest Mandel analysiert eine bislang unbekannte Sowjetunion

Erhard Stölting

Ddie skeptischen und die euphorischen Thesen zu „Perestroika“ und „Glasnost“ beginnen sich zu wiederholen. Gott sei dank gibt es Ernest Mandel, der nicht nur Optimist, sondern auch Marxist ist. Seine bisherigen Prognosen zum Zusammenbruch des Kapitalismus sind zwar noch nicht eingetroffen, immer aber weckten sie gespannte Aufmerksamkeit. Jetzt sagt er die zweite proletarische Revolution in der Sowjetunion voraus.

Doch diesmal wird weder die zaristische Selbstherrschaft noch die Bourgeoisie hinweggefegt. Zu zittern hat „die Bürokratie“. Sie jedoch ist, Gott sei dank, keine herrschende Klasse, sondern nur eine parasitäre „Schicht“, d.h. sie hat im gesellschaftlichen Produktionsprozeß keine Funktion, sondern stört und chaotisiert ihn nur. Eine sozialistische Planwirtschaft kann daher auch ohne sie genauer: nur ohne sie - funktionieren. Einzige Triebkraft zur Planerfüllung ist das private materielle Interesse der Bürokraten, während Kapitalisten bekanntlich auf immer höhere Effektivität drängen, um die Profite zu mehren. Die miserable Situation der sowjetischen Wirtschaft, die Mandel ausführlich, anschaulich und vielfach korrekt beschreibt, hat mithin eine erfreulich leicht verständliche Ursache. Auch alle übrigen Mißstände, die Mandel beschreibt, bis hin zur moralischen Krise der sowjetischen Gesellschaft, lassen sich von der Herrschaft der parasitären Bürokratie ableiten.

Mit dieser Deutung Mandels erledigt sich ein weiteres Problem. Marxisten, die bislang daran litten, daß ihre Krisentheorien nur bei kapitalistischen Gesellschaften funktionierten, können aufatmen: Der Sozialismus bleibt auch weiterhin und definitionsgemäß krisenfrei. Die sowjetische Gesellschaft ist halt, wie an der Herrschaft und den Privilegien der Nomenklatura deutlich wird, noch himmelweit von solidarischer Arbeitermacht entfernt.

Das Heilmittel ist so einfach wie die Diagnose. Das Übel muß an der Wurzel - wo sonst? - gepackt und die Herrschaft der Bürokratie beseitigt werden. Gott sei dank ist die Welt der Beherrschten genauso übersichtlich wie die der Herrschenden: Das Proletariat bzw. die „breiten Massen“ sollen diese verunglückte Übergangsgesellschaft wieder auf das richtige Gleis in Richtung Kommunismus setzen. Kommunismus aber heißt: eine wirkliche Vergesellschaftung der Produktionsmittel, eine Planwirtschaft, in der die Arbeiter den gesellschaftlichen Produktionsprozeß kollektiv nach Gebrauchswerten planen und die Verteilung kollektiv regeln. Als Voraussetzung dafür müsse die Macht zu den Räten (Sowjets), unmittelbarer Ausdruck der Herrschaft der Massen, zurückkehren. Das wiederum ist nicht denkbar ohne Mehrparteiensystem, politische und kulturelle Freiheit, Selbstorganisation, Arbeiterselbstverwaltung usw. Jedem „Altachtundsechziger“ wird es da warm ums Herz.

Im Kapitalismus dienen, wie jeder Revolutionär weiß, Reformen der Stabilisierung des Systems. Nicht die gesellschaftlichen Widersprüche werden beseitigt, sondern ihre schlimmsten Folgen abgemildert. Die Reformisten sind die Schlauköpfe unter den Herrschenden. So ist es, folgt man Mandel, auch in der Sowjetunion. Angesichts der Krise spalte sich die Bürokratenschicht. Ein Teil von ihr wolle nicht in seiner Behaglichkeit gestört werden und schließe die Augen. Ein anderer wolle der Gefährdung von Macht und Privilegien mit Reformen von oben begegnen. Kopf dieser Fraktion sei Gorbatschow. Die Perestroika entspreche also den Interessen der gesamten Bürokratie, aber sie werde nur von einem Flügel getragen. Der andere habe jeden Realitätssinn verloren. (81)

Folglich sind die Reformen Gorbatschows Ausdruck dessen, was Mandel als „pragmatische Realpolitik“ geißelt. Ihr treibendes Motiv sei allemal die Furcht vor unkontrollierbaren Massenaktionen. Die Krise habe die Gefahr einer Revolution gegen die Bürokratenherrschaft heraufbeschworen, daher solle die Wirtschaft nun durch Rationalisierung, Marktwirtschaft, Managermacht, betriebliche Selbständigkeit usw. wieder rentabel gemacht werden. Für die Arbeiter bedeute das Teuerung und strukturelle Arbeitslosigkeit. Die hieraus erwachsende Gefahr einer Massenbewegung solle durch politische Demokratisierung und Liberalisierung aufgefangen werden. Das aber ermögliche es den „breiten Massen“, sich zu solidarisieren, zu organisieren und schließlich zu „Massenaktionen“ überzugehen, die das herrschende System erschüttern.

Folgt man Mandel, dann sieht es düster aus für die Bürokraten. Die Konservativen haben keine Chance: Entweder sie halten Gorbatschow für das kleinere Übel, weil die politische Aktivität der Massen zu stark wird, oder sie werden durch Massenaktionen gestürzt. Gorbatschow selbst ist dann allerdings auf die Unterstützung der Massen angewiesen. Deren Skepsis aber ist nur überwindbar bei: Vollbeschäftigung, gesicherter Kaufkraft, Solidarität auf Betriebsebene, Verbesserung der Versorgungslage. Wird kein sozialistisches Alternativprogramm zur Perestroika entwickelt, dann geht der Kampf eben weiter, um „schließlich den Massen selbst an die Macht zu verhelfen.“ (267)

Was immer also geschehen mag, die zweite Revolution kommt nun endlich: „Die UdSSR ist in Bewegung geraten, und niemand kann sie stoppen.“ (22)

Mandels Buch zeichnet ein umfassendes Bild der sowjetischen Gesellschaft, das an vielen Stellen realistisch wirkt. Der Einwand, daß sich die vielen von ihm dargelegten Fakten allzu locker um seine Thesen gruppieren, wäre ungerecht. Im Gegenteil: Sein Interpretationsrahmen schließt diese Fakten neu und parteilich auf. Hatten die liberalen Ökonomen einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen Schlamperei der Arbeiter und Unfähigkeit der Bürokratie behauptet, so rettet Mandel die Arbeiterehre; Schuld an der niedrigen Arbeiterproduktivität sind die Bürokraten.

Auch die Entdeckungen, die Mandel zuweilen macht, passen gut zu seinen Erwartungen. So redete bisher alle Welt von politischen Konflikten zwischen Reformen einerseits und Konservativen und Nationalisten andererseits. Mandel deckt den Grundkonflikt auf: den zwischen Linken und Rechten. Bei den Provinzzeitungen etwa fand er: „Die liberale und offen chauvinistische Opposition prawo-slawischer Provenienz kommt hier eher zu Wort als Sozialisten, Anarcho-Syndikalisten und oppositionelle Kommunisten.“ (104) Das trifft. Es gibt bisher kein sowjetisches Organ, in dem sie umfangreich zu Wort gekommen wären; die wirkliche Opposition wird auch weiterhin totgeschwiegen. Kein Wunder, denn auch die liberalen vorgeblichen „Anti-Stalinisten“ sind im Komplott; aber ihr reaktionärer Versuch, Stalin mit Trotzki gleichzusetzen, ist jetzt durchschaut.

Die Lektüre dieses Buches macht deutlich, wie wichtig klare Orientierungen sind. Manch ein Leser wird mit Begriffen konfrontiert werden, die er kaum noch benutzte Familienerbstücke, die stillschweigend biographische Kontinuität und Selbstbewußheit gaben. Jetzt, wo sie frisch poliert vor ihm stehen, könnten ihm jedoch auch Selbstzweifel ankommen. War es wirklich je nötig, die kapitalistische Gesellschaft so schlicht zu sehen, wie Mandel die sowjetische sieht?

Aber vielleicht erschließt Mandels Ansatz ja die Außenpolitik. Daß es Gorbatschow mit der Abrüstung ernst meine, sei richtig, befindet er. Der Horror eines Atomkrieges müsse unbedingt vermieden werden. Auch die Befreiungsbewegungen müsse man sich künftig genauer ansehen; nicht jede sei eine. Eine falsche „pragmatische Realpolitik“ sei es aber, wenn Gorbatschow dem Imperialismus generell Friedensfähigkeit unterstelle. Und wenn es im Westen zu kleineren Abrüstungsschritten gekommen sei, so nur, weil die Herrschenden von den Friedensbewegungen bzw. den „breiten Massen“ dazu gezwungen wurden. Aber wenn, wie absehbar, die sowjetischen Volksmassen erst einmal die Macht erobert haben, wird auch wieder internationale Solidarität geübt allerdings nur mit jenen, die es wirklicn verdienen. Vielleicht sollte man wirklich wieder optimistischer sein.

PS für die Übersetzer: Jemand hätte ihnen bei der Transkription russischer Namen und Bezeichnungen helfen können. Ein wirklicher Internationalist sollte mit östlichen Sprachen ebenso sorgsam umgehen wie mit westlichen.

Ernest Mandel: Das Gorbatschow-Experiment. Ziele und Widersprüche, aus dem Französischen von Hans Günter Holl und Eberhard Rathgeb, 350 Seiten, Athenäum Verlag, 38 DM