Grauen über China

Die Bürgerkriegsmethoden rauben der chinesischen Regierung jede Legitimität  ■ G A S T K O M M E N T A R

Der Terror kommt in die Wohnstube. Das Fernsehen macht uns zu Zuschauern einer brutalen, kalkulierten Kampagne der chinesischen Machthaber. Vom Massaker am Tiananmen war die Öffentlichkeit noch ausgeschlossen, ihren Repressionsfeldzug aber organisieren die Verantwortlichen von vornherein via TV als PR-Offensive. Die Bilder Geschlagener auf dem Weg zwischen Verhaftung und Genickschuß gehen um die Welt. Ohne Scham zeigt die Macht ihren eigenen Mißbrauch. Hier wird vor nichts zurückgeschreckt, die Gewalt kennt keine Grenzen. Jeder kann das Opfer einer Denunziation werden. Eine Gesellschaft zerstört die Beziehungen der Menschen untereinander, wenn keiner dem anderen mehr trauen kann.

Eine kalkulierte Folge des Terrors besteht in seiner lähmenden Wirkung auf die Zuschauer. Die Erfahrung der Ohnmacht soll verdummen. Die lähmende Wirkung des Terrors auf das Denken können wir täglich in den simplen Erklärungen erfahren, die über China verbreitet werden. Von der Traditionslinie orientalischer Grausamkeit ist die Rede. Das Erschrecken über die Gegenwart wird mit der Geschichte verharmlost, als ob die Opfer heute in China keinen Anspruch auf ein Leben in Freiheit hätten, ein elementares Menschenrecht und nicht etwa ein westlicher Wert.

Die chinesische Regierung besaß eine Legitimität. Sie ist aus der größten Agrarrevolution im ärmsten Land der Erde hervorgegangen. In vierzig Jahren wurden neue Lebensbedingungen geschaffen, für die die jungen Leute auf dem Tiananmen auch neue politische Lebensformen einklagten. Mao-Porträt und Freiheitsstatue paßten für sie zusammen. Die Demokratiebewegung artikulierte die Hoffnung auf eine freiere Zukunft unter den sozialen Bedingungen einer nachrevolutionären Gesellschaft. Der Terror heute soll nun alle emanzipatorischen Ansprüche der Individuen im Keim zerstören. Die Bürgerkriegsmethoden, die gegen friedlich protestierende Menschen angewandt werden, rauben dieser Regierung jede Legitimität.

Im Jahr 200 nach der Französischen Revolution gibt es nichts zu feiern, sondern nur zu fordern: Keine Macht der Welt hat das Recht, aus Gründen der Staatsraison zu töten. Die Menschen am Tiananmen haben an uns appelliert, ihre Wünsche nach einem Leben in selbstgewählter Freiheit zur Kenntnis zu nehmen. Wir leben in einer Welt: Es ist nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht der Weltbürgerinnen und

-bürger, die Verletzung von Menschen aus bloßem staatlichen Machtkalkül zu verhindern. Dengs Modernisierungspläne hängen von ausländischen Geldern ab - das ist der archimedische Punkt. Es darf keine westliche Finanzierung eines neuen Gulag geben.

Detlev Claussen, Frankfurt