Handstreich

■ Zur Machtverschiebung in der Kommunistischen Partei Ungarns

Ungarn ist noch immer für atemberaubende Entwicklungen gut. Der entschiedene Reformflügel hat den zögernden Reformflügel nun in die Ecke gedrängt. Diese Machtverschiebung ist durch die Veränderungen an der Spitze der Partei institutionalisiert worden.

Das neu geschaffene, vierköpfige Parteipräsidium, in dem Generalsekretär Grosz durch Nyers, Pozsgay und Nemeth eingerahmt wird, relativiert die bisherige Bedeutung des Politbüros, das wie in allen anderen kommunistischen Parteien bisher de facto oberste Entscheidungsinstanz war. Da mit der Größe von Leitungsgremien auch ihre Bedeutungslosigkeit wächst, ist auch die Erweiterung seiner Mitgliederzahl auf 21 eindeutiges Indiz für Machtverlust. Grosz bleibt allerdings Generalsekretär und damit Herrscher über den Parteiapparat. Dessen exekutive Macht aber wird sich im Verlauf der Reform - wenn sie nun stattfindet mindern. Denn mit der Entflechtung von Wirtschaftsleben, Legislative und Staatsapparat büßt die Parteibürokratie auch ihre gesamtgesellschaftliche Steuerungsfunktion ein.

Der Handstreich der Reformer geschieht unter politischem Zeitdruck. Der Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozeß ist in Ungarn soweit fortgeschritten, daß er längst seine Eigendynamik entwickelt hat und innerungarisch nicht mehr gebremst werden könnte. Die Kommunistische Partei muß sich nun darauf einstellen, mit anderen Parteien um die Gunst der Wähler zu konkurrieren. Auch der geringste Anschein, sie würde den Umwandlungsprozeß doch irgendwie behindern wollen, wäre da für sie verhängnisvoll.

Grosz ist kein Reformgegner, aber angesichts der sozialen Kosten eher zurückhaltend. Die radikalen Reformer aber gehen von der Prämisse aus, daß sich diese sozialen Kosten leichter durchsetzen lassen, wenn die Regierung durch freie Wahlen demokratisch legitimiert ist.

Natürlich wird dieser Handstreich der ungarischen Reformer in der CSSR, Rumänien und der DDR wenig Begeisterung wecken. Beruhigend ist bloß, daß gegenwärtig eine „brüderliche nationalistische Hilfe“ von dort aus unmöglich scheint.

Erhard Stölting