Was Musik ist, bestimmen wir

■ Alte Musik und Orient beim Horizonte-Festival in Berlin

Elisabeth Eleonore Bauer

Das Fest ist voll im Gange, die Kongreßhalle leergefegt. Die Programmhefte gibt es schon zum halben Preis. Der Mann am Tresen blättert lässig die verfallenen Vorverkaufskarten durch und ist dabei immer noch optimistisch: wenigstens für das Abschlußkonzert, so meint er, „rechnen wir mit ausverkauftem Haus“.

Denn heute abend, wenn die lange Nacht anbricht mit dem Orient-Jazz und Cheb Khaleb, dem König des Ra'i, dürfen wohl wieder die zahlreichen Freunde der Weltmusik erwartet werden, die schon das Sondergastspiel des qawwal-Musikers Nusrat Fateh Ali Khan herausgerissen haben. Außerdem waren die Konzerte der Ethno-Pop/Jazz/Rock-Reihe mit dem mythenträchtigen Titel Orient-Express, wenn auch nicht rappelvoll, so doch ein leidlich gutes Geschäft. Die MacDonaldisierung der Musik der Dritten Welt schreitet ja immer noch rüstig voran. Freilich sind die hiesigen Fans ein bißchen abgeschlafft von der grassierenden Festivalitis dieses Berliner Sommers - Heimatklänge umsonst und draußen am laufenden Meter, seit Wochen schon muß der weltoffene Mensch allabendlich auf die Piste, wenn er weiter mitreden will. So viel Multikultur hält keiner aus. Da ist es völlig klar, daß sich die Weltmusikjünger nicht auch noch um die klassischen Wurzeln ihrer Leidenschaft kümmern können. Beim Festival traditioneller Musik (genannt Ex oriente lux) spielten denn die Musiker aus Marokko, Tunesien, Ägypten und der Türkei vorwiegend vor leeren Stühlen und einem kleinen Häuflein Landsleute sowie dreieinhalb StudentInnen der vergleichenden Musikwissenschaft. Auch die dritte Konzertreihe Alte Musik und Orient war erstaunlich schlecht besucht. Horizonte '89, das vierte Festival der Weltkulturen, wurde zu einer Begegnung der dritten Art: Es fand viel statt, und nichts ist passiert.

Jedenfalls kam es nicht, wie angekündigt, zu einer Begegnung von Orient und Okzident. Dafür kriegte jedes Tierchen sein Frisürchen: Die Kollegin vom 'Handelsblatt‘ zum Beispiel, die alles irgendwie degoutant fand, konnte ihren LeserInnen wenigstens Gutes berichten über das mit europäischer E-Musik abgefüllte Eröffnungskonzert und die Darbietung von Felicien Davids Brises d'Orient in der Philharmonie. Beim Stadtmagazin dagegen freute man sich schon im voraus herzlich auf „all diese wachen Leute, die bereit sind, ihre subkulturellen Gartenzäune beiseite zu stellen auf der Suche nach guter Musik“ - und vergaß darüber doch nicht die alternative Servicefunktion: die musikalische „Reise zu den Quellen“ sei doch eine prima Chance, die „Wahl des Urlaubsziels“ zu klären, die bekanntlich „von Jahr zu Jahr schwerer fällt“. Weil ich schon in Urlaub war und überhaupt, weil es außerdem auch noch die jungen Freunde der alten Musik gibt, die schon seit Jahren abgefahren sind auf die Vergangenheit, hat mich die taz in die dritte Konzertreihe geschickt.

Da saßen sie denn wieder traut beisammen, die Konsumverächter und Karajanhasser, und hörten live, was sie zu Hause, ein bißchen schöner, weil ausgesteuert, auch auf Platte haben: den mickrigen Mäuseton von Rebec und Fidel, den biodynamischen Sound der echt unreinen Blockflöten und das beruhigende Bordunschnarren der Radleier. Gewiß war es nicht ganz so wie sonst: Denn die angereisten Ensembles führten, dem Thema des Festivals verpflichtet, einige orientalische Gäste mit im Gefolge, und statt der Alten gab es diesmal vorwiegend älteste Musik. Spanische Cantigas und Estampien, proven?alische und katalanische Troubadourlieder, italienische Laudesi und französische Virelais. Karges Mittelalter also, Musik aus der Zeit vor unserer Zeit, da der europäische Norden noch Entwicklungsland war und die islamische Kultur den Mittelmeerraum beherrschte. Die Weltkarte zum Beispiel, die der Gelehrte Al-Idrisi um 1140 im Auftrage des Normannenkönigs Roger II. zu Palermo anfertigte, ist wie alle arabischen Karten selbstverständlich gesüdet - und auch die Weltkarten des christlichen Abendlandes waren anfangs noch nicht nach Norden ausgerichtet, sondern nach Osten - sie waren also: orientiert. Das Heilige Land, das es immer mal wieder von den Heiden zu befreien galt, lag rechts oben, Europa links unten.

Das Ensemble Sequentia aus Köln widmete sein erstes Horizonte-Konzert dem Apostel Jakobus, der in Jaffa geboren, in Jerusalem geköpft und angeblich in Spanien begraben wurde. Weil er direkt verwandt mit dem Heiland war (quasi ein Cousin ersten Grades), und weil er außerdem als erster versucht hatte, die Heiden auf der iberischen Halbinsel zu bekehren, machte man ihn elfhundert Jahre später zum „Soldaten des Glaubens“, als es darum ging, das Land wieder von den Sarrazenen zu säubern. Mit dem Schlachtruf „Santiago“ (Sankt Jakob) stürzten sich die Krieger der Reconquista in den Kampf und ließen zur Rechten und zur Linken einen halben Türken sinken, Scharen von Pilgern aus ganz Europa folgten ihrer Spur mit frommen Liedern auf den Lippen. Die überlieferten Jakobus-Hymnen und Exaltationen sind wohl siegesbewußten Inhalts, in die Musik aber mischt sich doch die maurische Tradition (von der die Wissenschaft immer noch behauptet, sie lasse sich nicht restlos nachweisen). Von den Wundern, die den Pilgern auf dem Weg nach Santiago de Compostela widerfuhren, berichten noch einige der rund 400 Marienlieder, die König Alfonso von Kastilien dann im 13.Jahrhundert sammeln ließ. Er wurde „der Weise“ genannt und war ein Muster an Toleranz - sein Hof zu Toledo und Sevilla ein Treffpunkt von christlichen, muslimischen und jüdischen Künstlern und Gelehrten.

Die Cantigas de Santa Maria des Alfonso el Sabio gab es im letzten Programm von Sequentia - auch die meisten anderen Ensembles bedienten sich aus diesem berühmten Fundus. Es sind hochartifizielle Lieder, teils halbliturgische Lobgesänge, teils tänzerische Balladen - höfische Kunst und fast weltliches Frauenlob. Das Schöne daran ist, daß man sie aufführen kann wie es beliebt, denn solcherart Älteste Musik ist, wie man von heutiger Warte aus weiß, nur „unvollkommen“ überliefert. Notiert sind zunächst der Text und in diesem Fall auch die Melodien, ob und was für Instrumente verwendet wurden, darüber darf dann spekuliert werden. Rhythmische Angaben fehlen meistens sowieso. Die Frage, ob man die Quellen modalrhythmisch oder deklamationsrhythmisch lesen soll, ist ein zäher Streitfall, und vor nicht allzulanger Zeit noch sind die abendländischen Musikwissenschaftler umstandslos davon ausgegangen, daß kreuzbrave Vierviertel mit ordentlichen Hebungen und Senkungen einfach die Norm sind und schon immer waren: Was Musik ist, bestimmen wir. Und Musik ist, was notiert ist, punktum. Wenn alte oder ausländische Musiken auf Improvisation und einer schriftlich nicht fixierbaren Vielfalt von Variationen basieren - selbst schuld. Kunst ist Kunst, dafür gibt es schließlich Kriterien.

Das Duo Mediterraneo (aus München, wo es geradezu ein Nest von mittelalterlichen MusikwissenschaftlerInnen gibt) ist im Gegenteil der Ansicht, daß die Aufführung alter Musik nur so richtig und so falsch sein kann, wie der Musiker der Gegenwart sie spielt. Die beiden bedienen virtuos alle möglichen Schlag- und Blasinstrumente und musizieren ketzerisch ohne Noten zeitgenössische Mittelmeerfolklore und Melodien aus alten Codices querbeet. Ein bißchen wandervögelig kommen sie so daher, die Cantigas des Alfonso, aber es swingt. Sonst werden sie meistens akademisch und pur gegeben: eine Stimme, eine Laute (die Kurzhalslaute - 'laud‘ oder auch 'el Ud‘ - wie sie auch auf den schmückenden Miniaturen der Handschrift die arabischen Musiker in Händen halten). Oder eine Stimme, eine Trommel. Es geht aber noch ganz anders. Das Ensemble Hesperion XX aus Barcelona zum Beispiel motzt die spröden Stücke virtuos auf zum modernen Gesamtkunstwerk, kommensurabel für Konzertsaal und Compactdisc im 20.Jahrhundert: mit Streichern und Bläsern, Soli und Tutti, Piano und Forte, Crescendo, Stretta, Parlando, Ritardando - ganz so als handele es sich um eine Beethovensche Sinfonie oder um eine Oper von Verdi.

Auch so wird es Musik - freilich kann man sich streiten über ihren ursupatorischen Anstrich. Das junge Ensemble Sarband, das die kostbaren Melodien mit spitzen Fingern und dünnen Stimmen zelebriert, gerade so, als könnten sie zerbröckeln wie die alten Manuskripte, auf denen sie geschrieben stehen, wäre gewiß nicht damit einverstanden.

Wirklich fürchterlich aber wird es erst, wenn der mit Schallplattenpreisen hochdekorierte Altmeister Rene Clemencic zur Flöte greift: Er hält sie triumphierend erigiert in den Raum, bläst die Backen auf zum Dauervibrato und hudelt darauflos, offensichtlich in dem festen Glauben, bei alter Musik sei sowieso alles egal. Vielleicht denkt er auch, möglichst viele, möglichst beliebige Töne seien Improvisation. Die Cantigas auf diese Art sind reine Folter. Im übrigen hält der Mann den Blick starr auf das Notenblatt, zählt irgendeinen Takt aus und gibt seinem Clemencic Consort ganz überflüssige Winke. Er hat die Truppe für dieses Gastspiel mit einer Anzahl großartiger Musiker aufgefrischt

-Andras Kecskes und Tamas Kiss aus Budapest, der grandiose Perkussionist Esmail Vasseghi aus Persien.

Die treten noch einmal auf. Spielen und singen sich mit dem Kecskes-Ensemble quer durch die grausame Geschichte der Begegnung von Orient und Okzident, tanzen sogar, durch die Jahrhunderte: Von der Hymne an die sumerische Mondgöttin über die Klagelieder der Völkerwanderung bis hin zu siebenbürgischen Morescen und rüden Landsknechtsliedern. An diesem Abend gab es endlich Gegner bei der Begegnung, nicht nur, wie sonst beim Horizonte-Musikprogramm: Europa oben, genordet, und der Rest der Welt macht Folklore. Freilich fand die Begegnung in Ungarn statt und ziemlich ohne Noten.