Triumph als geordneter Rückzug

Die Stars von Solidarnosc bleiben im zweiten Glied  ■ G A S T K O M M E N T A R

In Polen kann das Abenteuer einer sytstemoppositionell geführten Regierung unter einer präsidialen kommunistische Schirmherrschaft beginnen. Vor dem Hintergrund stündlich steigender Lebensmittelpreise und eines profunden Vertrauensverlustes der kommunistischen Autorität fordert Volkes Stimme Zeichen einer radikalen Veränderung. Die langwierige Regierungsbildung nannte man abschätzig „Karussell der Generäle“. Das Volk wollte Walesa als Premier, keinen Kiszczak. Aber Lech will nicht; er beschränkte sich auf ein politisches Kabinettstück von italienischer Rafinesse, das auch die eigenen Anhänger verwirrte. Vor Wochen hatte Adam Michnik in der 'Gazeta wyborcza‘ - der einzigen Tageszeitung, für die man hier geduldig Schlange steht - eine Kohabitation nach französischem Muster gefordert: ihr Präsident, unser Premier. Heute wird als „unser Premier“ der Solidarnosc -Journalist Mazowiecki vorgestellt - ein angesehener katholischer Intellektueller, kein Klerikalist.

An den Entscheidungsgremien der Solidarnosc vorbei hatte Walesa Anfang August die Öffentlichkeit mit einem Koalitionsangebot an die kleineren Blockparteien irritiert. Durch die parlamentarische Immobilität angesichts der ökonomischen Existenzkrise drohte auch das Ansehen der Solidarnosc beschädigt zu werden. Bauern- und Bürgerpartei, ZSL und SD, galten bis dahin als KP-treu. Sie sahen nun ihre Chance, nicht gemeinsam mit den Kommunisten unterzugehen. Mit einem Schachzug hatte Walesa schon die Mehrheit aller Abgeordneten gewonnen. Die polnischen Kommunisten konnten nur noch jammern. Um dem Präsidenten die neue Koalition schmackhaft zu machen, bot Walesa Jaruselszki die Beteiligung der kommunistischen PZPR in sensiblen Bereichen wie Innen- und Verteidigungsministerium an. Eine große Koalition, die vor Wochen fast jeder in Polen abgelehnt hätte, ist inzwischen hochwahrscheinlich.

Die Führung der Koalition hat aber jetzt die Solidarnosc. Der Premier trägt ein großes Risiko. Die Nomenklatura steht ihm feindlich gegenüber, in der Ökonomie herrscht Chaos, die soziale Spannung wächst täglich. Es muß etwas geschehen, aber was kann man machen? Auf der Kabinettsebene hat Solodarnosc ihre Reifeprüfung abgelegt, doch die gesellschaftliche Machtprobe wird sich über Jahre hinziehen. Dafür braucht man personelle Reserven - Walesa, das politische Naturtalent, Kuron, den strategischen Kopf, Geremek, den Mann des Ausgleichs. Im August 1989, neun Jahre nach dem Danziger Abkommen, ist die einst illegale Opposition bis in die Regierungsinstitutionen marschiert. In dieser neuen Funktion muß sie die Mehrheit der Bevölkerung erst gewinnen. Sie muß jetzt aber auch die Gutwilligen und Opportunisten in Staat und Parteien auf ihre Seite ziehen, um eine andere Gesellschaftsordnung herbeizuführen. Alles auf die Regierung zu setzen wäre Wahnsinn - ein geordneter Rückzug.

Detlev Claussen, zur Zeit Warschau