Bulgaren meutern gegen Liberalisierung

■ Führung revidiert Repression gegen Moslems / Regionale Demonstrationen gegen moslemische Namen / Furcht vor „Überfremdung“ / „Perestroika ja, Islamisierung nein“ / Exodus der türkischen Minderheit hatte Wirtschaft in Krise gestürzt

Berlin (dpa/afp/taz) - Über 10.000 Bulgaren haben am Montag in der Stadt Kirdschali gegen die Entscheidung protestiert, die den Moslems den freien Gebrauch ihrer Religion und ihrer Sprache und die Wiederverwendung ihrer moslemischen Namen gestattet. Auch in der Stadt Chaskowo versammelten sich über 10.000 Protestierende, die riefen: „Perestroika ja, Islamisierung nein“, und „Bulgarien den Bulgaren“. Am Freitag wollen die Liberalisierungsgegner einen zweistündigen Warnstreik ausrufen. Zugleich organisierten tausende Moslems im Zentrum von Kirdschali eine Gegendemonstration. Politbüromitglied Andrej Lukanow bemühte sich an Ort und Stelle, die Wogen zu glätten, aber er wurde von der Menge ausgepfiffen.

Seit dem 29.Dezember sind alle repressiven Regelungen, die auf eine Zwangsassimilierung der Moslems in Bulgarien zielten, außer Kraft gesetzt worden. Gesetzeskraft soll diese Rücknahme auf der nächsten Sitzung der Nationalversammlung Ende Januar erhalten. Das ZK der KP hatte am Wochenende die vom ehemaligen Parteichef Shiwkow durchgesetzte Nationalitätenpolitk als „schweren politischen Fehler“ bezeichnet. Gegen diese Liberalisierung hatte sich bereits in der vorigen Woche ein „Komitee zum Schutz der nationalen Interessen“ gebildet, das die Beseitigung der Diskriminierung kritisiert und eine Volksabstimmung über den Minderheitenstatus der Moslems in Bulgarien fordert.

Bei den bisher diskriminierten Minderheiten handelt es sich um etwa 800.000 Türken und 200.000 Pomaken, bulgarischsprachige Moslems, die vor allem in den Gebieten der Rhodopen, dem Grenzgebirge zu Griechenland, leben. Die Diskriminierungen setzten bereits Ende der fünfziger Jahre ein, als türkische Zeitungen geschlossen, türkische Rundfunksendungen eingestellt und der moslemische Kultus mehr und mehr eingeschränkt wurde. Zu einem Symbol der Assimilierung wurde der zwangsweise Namenswechsel. In den sechziger Jahren wurden die moslemischen Zigeuner zur Übernahme bulgarischer Namen gezwungen. Da sie traditionell unorganisiert sind, waren sie zu einem Widerstand nicht in der Lage. Anfang der siebziger Jahre, wurden die Pomaken Opfer der Zwangsmaßnahmen, ihre teilweise blutige Unterdrückung und ihr Widerstand blieben von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt. Mitte der achtziger Jahre erst traf es auch die Türken. Das offizielle Argument war, daß es sich bei ihnen um ethnische Bulgaren handele, die zur Zeit des osmanischen Reiches durch die Türken zwangsassimiliert worden seien und nun freiwillig in den Schoß ihrer Nation zurückkehren wollten. Dieser Freiwilligkeit widersprach der heftige Widerstand und die teilweise blutige Repression, die ihn brechen sollte. Nach einer neuen Repressionswelle reisten 1989 etwa 300.000 Türken in die Türkei aus. Dieser Exodus stürzte die bulgarische Wirtschaft in eine schwere Krise und trug zur Entmachtung Shiwkows am 10.November 1989 bei. Dem Bauwesen, dem Bergbau, vor allem aber der Landwirtschaft fehlen nun wertvolle Arbeitskräfte.

Gegen die Zwangsmaßnahmen hatten bulgarische Intellektuelle Mitte letzten Jahres protestiert. Allerdings zeigten auch hier schon Konflikte innerhalb der intellektuellen Opposition, daß ein Teil zwar die Methoden, nicht aber die Ziele der Politik Schiwkows auf diesem Gebiet ablehnten. Wie die Bevölkerung über das Problem denkt, läßt sich gegenwärtig noch nicht absehen. Kirdschali, wo die jetzigen Proteste stattfanden, ist insofern ein besonderer Fall, als die Mehrheit seiner 50.000 Einwohner Türken sind.

Immerhin hat die Parteiführung mit ihrer Aufhebung der Zwangsassimilation dem eben beginnenden „Runden Tisch“ ein mögliches Ergebnis vorweggenommen. Alle der bisherigen größeren Oppositionsgruppen hatten bislang genau das gefordert, was nun realisiert wurde.

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