Keine Hauptstadt für keinen Staat

■ Berlin als Hauptstadt hat mehr zu verlieren als nur ein Kiez-Gefühl

Es bahnte sich so schön an: Berlin als Umschlagplatz für Ideen und Güter aus Ost und West; Berlin als Sitz europäischer Institutionen; Berlin als weltoffene europäische Metropole. Die Einlösung dieser Nachkriegshoffnung war nach Öffnung der Mauer kurze Zeit greifbar nahe. Es war auch mein Zukunftsbild - seit langem. Jetzt fürchte ich, daß ich mich von ihm verabschieden muß.

Brücke zwischen Ost und West zu sein, ist mit der Rolle der Hauptstadt des größten Staates in Europa nicht vereinbar. Die Brückenfunktion ist Berlin-West auf den Leib geschrieben und strahlt aus nach Berlin-Ost, solange die Halbstadt aufgrund ihrer geographischen Ferne zur Bundesrepublik und aufgrund ihres Sonderstatus‘ eine gewisse Distanz zur Zentralmacht wahrt. Mit durchgeschnittenen Traditionslinien

-keine Hauptstadt für keinen Staat - dokumentierte West -Berlin ohne Worte das Scheitern der Machtpolitik des Deutschen Reiches und das Scheitern von Machtpolitik darüber hinaus. Ihre Angeschlagenheit brachte der Stadt die Sympathie anderer Staaten und Menschen anderer Länder.

Sie stand außerhalb der Konkurrenz und zog deshalb nicht den Neid der Großen, aber auch nicht die Angst der Schwachen auf sich. Jetzt - nach Öffnung der Mauer - hätte dies, im Zuge der Neugestaltung Europas, zu einer kulturellen, aber auch zu einer wirtschaftlichen Blüte der Stadt führen können. Wird Berlin Hauptstadt eines deutschen Einheitsstaates, so wird sich die Besorgnis der anderen Staaten und Menschen hinsichtlich einer Übermacht Deutschlands in Europa auf die Stadt übertragen - auch wenn sie versucht, mit Repräsentanz und nationaler Machtsymbolik sparsam umzugehen. Die anderen Staaten und Menschen, die Europa unter der Maßgabe des Machtausgleichs aufbauen wollen, werden kein Interesse daran haben, die ohnehin schon große Bedeutung Berlins durch die Ansiedlung europäischer Einrichtungen noch weiter zu vergrößern.

Schon hat sich der Runde Tisch in der DDR dafür ausgesprochen, daß die KSZE-Konferenz im Herbst nicht wie anvisiert in Berlin, sondern in Prag stattfinden soll; angesichts der Entwicklung bei uns ist das nur plausibel. Gewiß werden immer mehr Menschen aus den osteuropäischen Ländern zuwandern, vermutlich sogar sehr viele - in der Hoffnung, hier bessere Lebensbedingungen zu finden als in ihrer Heimat. Aber für Europäer, die nicht aus der Not, sondern aus freien Stücken hier sind, wird die Stadt unattraktiver werden. Sie ist nicht mehr frei für eine individuelle Lebensgestaltung; sie ist besetzt mit der nationalen Funktion, Hauptstadt zu sein.

Bisher fehlte ihr wie kaum einer anderen Stadt eine „bessere“, tonangebende Gesellschaft. Das war befreiend. Das nun wird sich ändern. Nur wenn der Ausgangswiderspruch zwischen einer europäischen Metropole und der Hauptstadt eines deutschen Einheitsstaates gesehen wird, mag es gelingen, ihn abzumildern. Berlin als Hauptstadt hat mehr zu verlieren als ein Kiez-Gefühl.

Hilde Schramm, Mitglied der Alternativen Liste und Vizepräsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses