Behutsam öffnet sich die Ukraine

West-Ost-Unterschiede gibt es dort auch, aber gegen Moskaus Zentralisierung stehen alle Ukrainer  ■  Von Erhard Stölting

Andere Rahmenbedingungen herrschen bei den anstehenden Wahlen in der Ukraine im Vergleich zu jenen im März 1989, als der Kongreß der Volksdeputierten der Sowjetunion gewählt wurde. Damals hatte die Oppositionsbewegung bemerkenswerte Durchbrüche gegenüber einem stockkonservativen Establishment erzielt. Auch andere Erfolge konnte sie gegen erbitterten Widerstand durchsetzen. So wurde der seit 17 Jahren als Erster Sekretär der ukrainischen Kommunistischen Partei amtierende Wladimir Schtscherbizkij endlich abgelöst.

Sein Nachfolger Wladimir Iwaschko ist zwar kein stürmischer Neuerer, aber er vertritt eine sehr vorsichtige Öffnung. Überdies arbeiten, gegen den Willen der Obrigkeit in Kiew, inzwischen örtliche Partei- und Regierungsstellen mit informellen Organisationen zusammen, vor allem dort, wo es um wirtschaftliche und ökologische Fragen geht. Die politische Stoßrichtung geht in diesem Falle meist gegen die wirtschaftliche Steuerung von außerhalb der Republik.

Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist Ukrainisch die Staatssprache, Russisch das Verständigungsmittel zwischen den Nationalitäten. Gestoppt wurde der Bau mehrerer - längst nicht aller - Atomkraftwerke. Geändert wurde nach heftigen Auseinandersetzungen auch das Wahlgesetz. Die oppositionelle Bewegung setzte sich zwar mit ihrer Forderung nach einer Direktwahl des Vorsitzenden des ukrainischen Obersten Sowjets nicht durch. Auch werden in den Wahlkreisen nicht „zwei oder mehr“ Kandidaten aufgestellt, sondern „eine beliebige Anzahl“, was bedeutet, daß es auch ein einziger sein kann. Durchgesetzt hat sich die Opposition hingegen mit der Forderung nach Abschaffung der Quoten für die gesellschaftlichen Organisationen. Auch einen ukrainischen Kongreß der Volksdeputierten gibt es nicht, die Abgeordneten des Obersten Sowjets werden direkt gewählt. Der hat nun das Recht, Entscheidungen des Ministerrats der Sowjetunion zu suspendieren, wenn sie mit der Verfassung oder Gesetzen der Ukraine kollidieren. Aus gleichem Grund kann er auch gegen Entscheidungen des Obersten Sowjets oder des Kongresses der Volksdeputierten der SU Einspruch einlegen.

In den Kohlerevieren des Donbass haben sich gegen Aufforderungen von oben die Streikkomitees von Juli dieses Jahres nicht aufgelöst, sondern der Partei die Macht aus den Händen genommen. Die von Woroschilowgrad, Dnepropetrowsk, Donezk und Rostow (RSFSR) haben sich grenzüberschreitend zu einer Regionalen Union (RSSKD) zusammengeschlossen. Ihre Delegierten nahmen auch am offiziellen Gründungskongreß der Volksfront „Ruch“ im September in Kiew teil. Allerdings bleiben sie der Nationalbewegung gegenüber reserviert.

Die Bewohner der Ostukraine, wie die Arbeiter des Landes überhaupt, sind vorwiegend Russen und russifizierte Ukrainer. Von den Schriftstellern und Intellektuellen, die die nationalen Oppositionsbewegungen anführen, trennt sie ein zugleich nationaler und sozialer Unterschied. Überdies wird, wie in den anderen Republiken, die ausdrückliche ethnische Toleranz der Führer von der breiten Anhängerschaft oft nicht mitgetragen.

Zentrum der nationalen Bestrebungen ist die Westukraine, die erst aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes von Polen zur Sowjetunion kam. Von hier kamen 50 Prozent der 1109 Delegierten des offiziellen Gründungskongresses der ukrainischen Volksfront „Ruch“, nur 6 Prozent kamen aus der Ostukraine. In der Westukraine prägt die auf dieses Gebiet beschränkte und Rom unterstellte griechisch-katholische (unierte) Kirche das nationale Bewußtsein, die wurde erst Ende 1989 wieder zugelassen.

Alle Oppositionsbewegungen des Landes fordern ein Ende der wirtschaftlichen Zentralisierung in Moskau. Den Arbeitern geht es dabei vor allem um Versorgung, Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnisse - den nationalen Bewegungen stärker auch um ökologische Probleme. Mit ihnen befaßt sich vor allem die unabhängige Gesellschaft „Selenji Swit“ (Grüne Welt). Die Folgen von Tschernobyl sind noch immer akut. Zwölf Dörfer im Norden des Gebietes Shitomir wurden jetzt evakuiert, viel zu wenig angesichts der inzwischen auch offiziell festgestellten Verseuchung, und immer wieder werden Strahlenschäden entdeckt. Alle Informellen fordern daher den Ausstieg aus der Kernenergie. Aber auch die gigantischen Wasserkraftwerke, die veraltete Chemie- und Stahlindustrie, die ehemaligen Flüsse, die jetzt Kloaken sind, die ruinierten landwirtschaftlichen Böden und der bevorstehende Kollaps von Asowschen und Schwarzem Meer zeigen, wie überfällig radikale Veränderungen sind.