Eigenkultur statt Mission

■ Chilenischer Theologe: Der Zusammenbruch des Sozialismus wirft auch die Gesellschaftsentwürfe der Theologie der Befreiung um mindestens zehn Jahre zurück / Papst macht Befreiungstheologen das Leben schwer / Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen

Kreuzberg. Die Theologie der Befreiung in den Ländern Lateinamerikas orientiert sich neu. Nach einer „sehr optimistischen“ Phase seit den sechziger Jahren werde es nun mit dem Zusammenbruch des Sozialismus in den Ländern Osteuropas „mindestens zehn Jahre dauern, bis es in Lateinamerika wieder ein alternatives Gesellschaftsmodell zum Kapitalismus gibt“, sagte der chilenische Theologe Fernando Castillo gestern auf einer Veranstaltung des „Katholikentags von unten“. Die Theologie der Befreiung müsse in Zukunft nicht nur gegen Strukturen, sondern auch mit sozialen Bewegungen arbeiten.

Die Befreiungstheologen hätten sich in den letzten 20 Jahren zu sehr auf die Wirtschaftsstrukturen konzentriert, sagte Castillo. Mit der Einsicht, daß diese Strukturen nicht so schnell zu ändern seien, und der Erfahrung, daß diese Länder im Gegenteil immer schneller in die Verschuldung gerieten, sei nun eine Phase der Neuorientierung gekommen. Die Kirche müsse sich verstärkt um junge Menschen, Frauen, Indios und Schwarze kümmern und vor allem das verlorene Selbstbewußtsein der Völker stärken, das durch die 500jährige systematische Ausrottung der einheimischen Kulturen verlorengegangen sei.

Die Theologie der Befreiung war in den Kirchen der Dritten Welt nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 entstanden. Die Forderung des Konzils, die Kirche müsse die menschliche Geschichte ernst nehmen, führte in Ländern mit krassesten sozialen Ungerechtigkeiten zu einer „Option für die Armen“ durch Teile der Kirche. Inzwischen engagieren sich viele Katholiken Lateinamerikas in „Basisgemeinden“, in denen die hierarchischen Strukturen der Amtskirche durch Graswurzelkatholizismus ersetzt wird. Die Laien tragen die Gemeindearbeit, nicht die Priester.

Vom derzeitigen polnischen Stellvertreter Christi wurde und wird den Befreiungstheologen das Leben schwer gemacht. Überwachung, Disziplinierung und Lehrverbot für aufmüpfige Theologen wie den Franziskanerpater Leonardo Boff oder willkürliche Bischofsernennungen sind Roms Antwort auf die Bewegung. „Die Armen in den Basisgemeinden sind noch sehr autoritätshörig“, sagt Castillo, „die offizielle Kirche kann unten sehr viel bremsen und zerstören.“ An ein Loslösen von der römischen Kirche denke die Befreiungstheologie aber keineswegs.

In der Gewaltfrage sind die Umstände von Land zu Land verschieden, aber das Klischee vom Priester mit Maschinenpistole greift nicht mehr. „Grundsätzlich ist anerkannt, daß Befreiung nicht mit Gewalt kommen kann“, sagt der chilenische Theologe, „aber es gibt Situationen, wie in El Salvador, wo man vielleicht nicht gegen Gewaltanwendung sein kann.“

Bernhard Pötter