Contra

■ Jürgen Kuttner und Andre Meier, Ost-taz

Entgegen vorheriger Ankündigungen erschien in unserer Wochenendausgabe die Liste von 9.251 ehemaligen Stasi -Objekten nicht. Dieser Entscheidung war am Freitag eine außerordentlich kontrovers geführte Diskussion zwischen RedakteurInnen und MitarbeiterInnen der „West-taz“ und der „Ost-taz“ vorausgegangen, in der sich die MitarbeiterInnen der DDR-taz gegen die von einer Mehrheit der am deutsch -deutschen Zeitungsprojekt Beteiligten geforderte und betriebene Veröffentlichung aussprachen. Diese Diskussion berührte das Selbstverständnis der DDR-MitarbeiterInnen grundsätzlich und wird, auch für LeserInnen transparent, in den nächsten Tagen weitergeführt.

Wir sträuben uns nicht gegen eine lückenlose Aufarbeitung der Vergangenheit; wir sind uns bewußt, daß die in der DDR gegenwärtig ablaufenden Verdrängungsprozesse in ihrer Dimension mit denen der Nachkriegsgeschichte in beiden deutschen Staaten durchaus vergleichbar sind. Auch glauben wir nicht, daß diese Aufarbeitung ohne eine differenzierte und sicher schmerzhafte Selbstbefragung ablaufen kann - ein Vorgang, in den wir uns in unseren individuellen Biographien in sehr widersprüchlicher Weise selbst verstrickt sehen. Doch wir denken, daß uns diese Arbeit nicht von außen abgenommen werden kann.

Es geht nicht an, unter der Fahne eines journalistischen Auftrags die möglichen Folgen zu übersehen, die eine Offenlegung aller uns zugänglichen Informationen in diesem Zusamenhang haben könnte. Daher plädierten wir für eine Unkenntlichmachung der Haus- und Wohnungsnummern ehemaliger konspirativer Wohnungen. Wir befürchten, daß ihre jetzigen BewohnerInnen, die in vielen Fällen nichts mit dem ehemaligen Nutzer verbindet, zum Ziel von Unterstellungen, Verdächtigungen und Gewalttätigkeiten werden könnten. Die Ängste und Warnungen von Bürgerkomitees, politischen Parteien und LeserInnen bestärken uns in dieser Auffassung. Und das nicht aus Feigheit angesichts angekündigter Repressalien aus dem Hause Diestel oder politischer Abhängigkeit, sondern weil wir uns bewußt sind, daß sich unser Land in einer gesellschaftlich-moralischen Krise befindet, in der eine zunehmende Bereitschaft, Konflikte und persönliche Verunsicherungen gewaltsam auszutragen, existiert. Sich formierende militante Gruppen, das erschreckende Ausmaß offener Ausländerfeindlichkeit, die Suche nach neuen (oder alten) Sündenböcken sind Symptome dessen. Dem haben Politiker und ein Justiz- und Polizeiapparat, der seine eigene Mitverantwortung auf der Flucht in die gesamtdeutsche Zukunft verdrängt, nichts entgegenzusetzen. Es besteht vielmehr die Gefahr, daß Elemente der alten Unterdrückungsmaschine von den jetzt und demnächst Regierenden in Dienst genommen werden. Vor diesem Hintergrund erscheint uns eine undifferenzierte Aufarbeitung, wie sie von den bundesrepublikanischen Medien und leider zum Teil auch von der taz betrieben wird, wenig hilfreich. Stasi, SED und PDS werden zu Klischees, die die widersprüchliche Beziehung und eigentümliche Verquicktheit von totalitärem politischen System und deformiertem Lebensalltag in der DDR verdecken und den Verdrängungen der großen Mehrheit der Bevölkerung Vorschub leisten. Über die oben erwähnten Gründe hinaus würde die Veröffentlichung der Adressen - wie auch die Veröffentlichung von Namen ehemaliger MitarbeiterInnen der Staatssicherheit - all jene aus der moralischen Verantwortung nehmen, deren Wohnungen oder deren Namen in diesen Listen nicht erscheinen, deren Schweigen aber eine Voraussetzung für die Existenz dieses gigantischen Repressionsapparates war.

Wir befürchten, daß das Scheitern des Aufbruchs in der DDR einem Großteil der westdeutschen Linken einen Vorwand bietet, ihre Nischenexistenz und ihre Utopiefeindlichkeit nachträglich zu legitimieren und nicht ohne Zynismus zu kommentieren. Im Trauma einer von ihren Eltern getragenen Restaurationspolitik aufgewachsen und in der Auseinandersetzung mit dieser ideologisch sozialisiert, sehen sie nun in der Auseinandersetzung mit der DDR -Vergangenheit die Möglichkeit, an die versandeten 68er -Familiendebatten anzuknüpfen, wohl wissend, daß diesmal die ökonomische Macht auf ihrer Seite ist.

Zwar haben wir eine gemeinsame Zukunft, doch nur dann, wenn man uns das Recht auf unsere Vergangenheit nicht raubt.