Nationen und Religionen in der Sowjetunion

Der Autor versucht, auf die vielgestellte Frage „Zerbricht die Sowjetunion?“ eine Antwort zu geben, indem er eine Typologie der Nationalbewegungen herausarbeitet/ Bei der Konstituierung dieser Bewegungen spielen Nationalismus, Religion und Demokratie eine Rolle  ■ Von Erhard Stölting

Die Hiobsbotschaften aus der Sowjetunion häufen sich. Das Riesenreich scheint zu zerbrechen. Dennoch sollte man ihm nicht vorschnell das Ende vorhersagen. Sicher ist bisher nur, daß die Sowjetunion an einigen Rändern zu bröckeln beginnt. Der Ablösungsprozeß der baltischen Staaten ist inzwischen wohl unumkehrbar. Auch Transkaukasien drängt aus dem sowjetischen Zwangszusammenhang; in Moldawien verstärken sich Wünsche nach einem Anschluß an Rumänien. Aber mit Ausnahme Aserbaidshans sind in den muslimischen Republiken die Unabhängigkeitsbewegungen noch nicht dominierend. Die „spontane“ Gewalt von unten, die bislang vor allem in Mittelasien und in Transkaukasien ausbrach und sich sowohl gegen die sowjetischen Europäer wie gegen die muslimischen Nachbarn richtete, wird erst dann zur Sezessionsbewegung, wenn sie sich als solche formiert. Überall jedoch wächst in der Sowjetunion ein ethnisches Bewußtsein, das mehr Selbstvertrauen gibt, aber auch die interethnischen Beziehungen weitgehend vergiftet.

Gorbatschows Liberalisierung hat einen scheinbar paradoxen Prozeß in Gang gesetzt. Nach einem kurzen Aufatmen schuf die bislang unbekannte Möglichkeit zu freierer politischer Rede und Betätigung Frustration, Ärger oder gar Haß. Das Bild Gorbatschows näherte sich immer mehr dem eines Tyrannen. Was im Blick von außen verrückt anmutet, zeigt nur, wie gespannt die Stimmung ist. Die Konflikte werden durch den rapide sinkenden Lebensstandard verstärkt. Zumindest Feindschaften sind damit jedoch nicht zu erklären. Selbst die Vorstellung einer in langer Unterdrückung angestauten Wut, die sich beim geringsten Nachlassen des Drucks entlädt, scheint anhand der Faktenlage nicht plausibel. In dieser Intensität ist die Wut neu.

Ablaufschema der Nationalbewegungen

In den Nationalbewegungen der nichtrussischen Republiken läßt sich ein Ablaufschema erkennen, das jeweilsunter den konkreten Bedingungen variiert. In den baltischen Staaten hat es sich nahezu vollendet. Andere Momente, wie die Gewaltsamkeit, treten in Transkaukasien und Mittelasien deutlicher hervor.

Die ersten Akteure der Bewegung sind in der Regel Geisteswissenschaftler, Historiker, Schriftsteller, Journalisten und zum Teil Künstler. Wie oft in Krisensituationen wird die schöngeistige Intelligenz, die unter normalen Bedingungen in jedem System weit von der Macht entfernt ist, zu einem zentralen politischen Faktor. Gerade bei ihrer besonderen Verbundenheit mit Sprache und Geschichte ist ihr Engagement verständlich. Diese Intellektuellen gehören meist selbst zum Establishment und haben gute Kontakte zur reformgesinnten Reserve unterhalb der politischen Spitzen. Sie melden als erste Forderungen an, die zwar nicht sehr umstürzlerisch sind, aber die konservativen Führungen der Republiken in Harnisch bringen. Die Maßnahmen gegen diese Intellektuellen beschränken sich allerdings auf Schikanen; sie sind zu prominent. Ermutigt durch die von Moskau ausgehenden Signale initiieren oder unterstützen sie in der zweiten Phase die Bildung informeller Vereinigungen zu unterschiedlichen brennenden Themen. Nun engagiert sich auch ein neuer Personenkreis, meist jüngere Wissenschaftler und Studenten, die noch keinen Bonus für Prominenz besitzen. Auch sie werden von den Behörden schikaniert, aber die Zeit der Repression ist vorbei. Nun geht es immer grundsätzlicher um Demokratisierung, Liberalisierung des Kulturlebens und wirtschaftliche und politische Autonomie. Die in der Form informeller Gruppen wachsende Bewegung fordert letztlich eine schnellere und gründlichere Durchführung der Perestroika in einem nationalen Rahmen.

In einer dritten Phase werden die Energien organisatorisch in „Volksfronten“ gebündelt. Auch in ihnen dominiert die schöngeistige Intelligenz. Das ist zugleich jene Phase, in der Massendemonstrationen organisiert werden. Da die systematische Repression ausbleibt, schwellen sie rasch an. Selbst blutige Übergriffe der Armee oder Polizei verstärken nur die Erregung und Entschlossenheit. Sie flößen keine Angst mehr ein und verraten die Hilflosigkeit der Behörden. Noch immer sind die Führer der Bewegungen relativ gemäßigt, aber sie müssen nun mit den mobilisierten Bevölkerungen rechnen.

Die Massenmobilisierung setzt die Republikführungen unter Druck und untergräbt den Anschein ihrer Legitimität. Sie werden durch reformfreudigere Kräfte ersetzt, die auch den bis dahin geäußerten maßvollen nationalen Forderungen gegenüber offen sind. Für einen Augenblick nähern sich die Opposition und die neuen Parteiführungen einander an. Aber das ist nur eine kurze Zwischenphase. Denn gerade die Kooperation, die Durchsetzung der ursprünglichen Forderungen gefährdet die Bewegung. Die Demobilisierung der Bevölkerung würde sie ihrer Kraft berauben.

Gemäßigte und radikale Intellektuelle

In dieser Situation werden zwei Tendenzen in der intellektuellen Opposition erkennbar. Die einen, die „Gemäßigten“ halten an den ursprünglichen Zielen im großen und ganzen fest, die anderen radikalisieren sie. Es geht nicht mehr um Autonomie, sondern um die nationale Unabhängigkeit. Diese Radikalen sehen deutlicher, daß die Distanz auch zu den reformerischen offiziellen Führungen aufrecht erhalten werden muß. Ohne daß die Intellektuellen aufhören, die untrennbare Einheit von Demokratie und nationaler Freiheit zu beschwören, verschiebt sich das Hauptgewicht nun auf die nationale Symbolik. Sie ist es, die die Menschen begeistert, Kerzen entflammt, Menschenketten zusammenführt und die Entschlossenheit steigert. Jeder Schritt auf dem Wege dieser Radikalisierung schränkt jedoch die Handlungsspielräume ein. Selbst für taktische Kompromisse wird der Spielraum enger. Jeder führende Intellektuelle steht vor der Alternative, sich von der Begeisterung mittragen zu lassen oder marginalisiert zu werden.

Auch die Reformkräfte innerhalb der Kommunistischen Parteien müssen sich radikalisieren, wenn sie Einfluß behalten wollen. Die von ihnen noch beherrschten Obersten Sowjets fassen Beschlüsse, die die Unabhängigkeit institutionell weitgehend schon herstellen, bevor sie offiziell verkündet wird. Damit setzen sie eine Spirale der weiteren Radikalisierung in Gang; denn auch weiterhin müssen die Führer der Opposition Distanz halten. Die Kommunistischen Parteien der Republiken tendieren zur Spaltung. Dennoch verlieren die Reformorientierten an Boden. Auch einen reformierten und nationalen Sozialismus empfindet die Bevölkerung nun als unerträglich. In freien Wahlen zu den republikanischen Institutionen werden die Reformer von den Nationalbewegungen hinweggefegt. Die neu besetzten Machtinstitutionen verkünden die Unabhängigkeit.

Widerspruch von nationalen und demokratischen Zielen

In diesem Schema sind Variationen möglich. Wenn sich die Bevölkerung nur schwer für nationale Ziele mobilisieren läßt, stockt der ganze Prozeß in einem frühen Stadium. Die Republikführungen bleiben sehr konservativ und schikanieren die nach sowjetischen Maßstäben noch sehr gemäßigte Nationalbewegung, wie in Turkmenistan oder in Belorußland. Aber nicht nur ob, sondern wie die Bevölkerung mobilisierbar ist, spielt eine Rolle. Wo die soziale Distanz zwischen Intellektuellen und Bevölkerung sehr groß ist, wird die Integration von demokratischen Zielsetzungen, für die alle intellektuellen Führer der sowjetischen Nationalbewegungen eintreten, und den nationalen Emotionen zum Problem. Entweder es kommt zu dieser Integration nicht, dann bleibt die Nationalbewegung eine von Intellektuellen, und die radikaleren, meist jugendlichen Teile der Bevölkerung lassen sich anders in Bewegung setzen — zum Krawall oder zum Pogrom. Oder die Intellektuellen müssen sich ihrerseits der Bevölkerung annähern. Das gelingt jedoch nur, wenn sie von ihren liberalen und demokratischen Ausgangspunkten erhebliche Abstriche machen. Auf jeden Fall jedoch bedeutet das Aufgehen großer Teile der Bevölkerung in der Nationalbewegung, daß auch das volkstümliche Ressentiment deutlicher in sie eingeht.

Daß das demokratische und das nationale Moment im Widerspruch zueinander stehen könnten, würden Vertreter der Nationalbewegungen selbst vehement bestreiten. Sie betonen im Gegenteil immer wieder deren unauflösliche Einheit. Aber Begriffe führen auch im Denken Wohlmeinender ein widerspenstiges Eigenleben. In der Französischen Revolution verband sich die Idee der bürgerlichen Freiheit zwar mit der der Nation. Aber „Nation“ hieß Gesamtheit der Bürger der französischen Republik. Die Nation war frei, weil ihre Bürger es waren. Dieser Satz wurde erst in der romantischen Tradition umgedreht — wo die Nation frei ist, sind es auch ihre Bürger. Für die französischen Revolutionäre war unbestritten, daß eine Nation nur eine Sprache spricht. Erst die französische Sprache konnte Pikarden, Gascogner, Savoyarden, Katalanen, Provenzalen, Elsässer, Flamen, Bretonen und Basken von ihrem merkwürdigen „Patois“ weg und hin zu jener Zivilisation führen, die allein vernünftige Volksherrschaft möglich machte. Es gab keine „nationalen Minderheiten“, es gab nur freie französische Bürger. Diesen Vorstellungen standen die frühen Bolschewiki nahe, die auch sonst in den Analogien zur Französischen Revolution zu denken liebten.

Der von Herder ausgehende Begriff des Volkes war anders aufgebaut. Sein Ausgangspunkt war zunächst die Entdeckung, daß erstens das Denken nur im Medium von Begriffen möglich ist, und daß zweitens die Begriffe Elemente konkreter Sprachen sind. Die Verschiedenheit der Sprachen bedingt danach eine Verschiedenheit des Denkens, Dichtens und Fühlens. Die Sprache aber gehört so zu einem Volk und prägt dessen Kultur und den Charakter aller, die an ihr teilhaben. Was immer der Angehörige eines Volkes an Neuem dichtet, er wirkt gleichsam als Partikel des Volkes an einem gemeinsamen Text, anders ausgedrückt: Es ist letztlich das Volk, das durch ihn hindurch wirkt. Von diesem Begriff aus lag es nahe, sich das Volk wie ein „kollektives Subjekt“ vorzustellen, das denkt, empfindet, fühlt, sich erinnert oder vergißt. So läßt sich über Völker beziehungsweise Nationen reden, als ob sie tatsächlich handelnde Personen, und über wirkliche Personen, als ob die nur Erscheinungsformen ihrer Nation seien. So wird es im Gegensatz zum Nationenbegriff der Französischen Revolution möglich, von einer Freiheit der Nation so zu reden, und die Begründung ihrer innereren Verfaßtheit muß auf andere Argumentationszusammenhänge zurückgreifen.

Mythische Periodisierung des Lebens der Nation

Auch die Periodisierung des Lebens verändert sich durch das Aufgehen in der höheren kollektiven Individualität. Bestimmend wird die mythische Periodisierung des Lebens der Nation. Das Schema ist stets das gleiche. Auf eine frühe Entstehungszeit folgt mindestens eine Zeit der Größe und ihr eine Periode der Unfreiheit und Selbstvergessenheit. Die Nationalbewegung markiert einen Aufstieg, ein Erwachen, eine Rückkehr zur alten Größe, die alten Symbole werden reaktiviert. Jede europäische Nationalbewegung seit dem 19. Jahrhundert war entsprechend eine „Wiedergeburt“. Dieser Rückweg zur alten Freiheit und Größe verlangt auch die Rückkehr des verlorenen Eigentums. Immer geht es daher auch um die Wiederherstellung alter Rechte. Zur wiedergeborenen Nation gehört alles Land, das von Menschen der gleichen Sprache bewohnt wird. Zu ihr gehören aber auch all jene Territorien, in denen einst Menschen dieser Sprache wohnten, aber durch fremde Völker assimiliert wurden. Schließlich gehört alles dazu, das in den Zeiten der Freiheit und Größe der Nation gehörte, gleichgültig, wer das fragliche Territorium bewohnt oder bewohnte. Kaum eine der sowjetischen Nationalbewegungen, die nicht territoriale Ansprüche stellt und dabei eine dieser drei Begründungsarten einsetzt.

Spätestens auf der volkstümlichen Ebene werden die Grenzen zum gewöhnlichen Vorurteil fließend. Die erhabene nationale Symbolik erscheint als moralische Rechtfertigung von Arroganz oder Aggression. Wenn Menschen nur noch als Verkörperungen ihrer sozialen Kategorie, also in diesem Fall der Nation, wahrgenommen werden, und wenn alles, was getan wird, dieser Kategorie als kollektivem Subjekt zugeschrieben wird — dann ist der Augenschein plausibler Beleg für aberwitzige Annahmen. Ihr Medium ist das anonyme Flugblatt und das Gerücht, welches glaubhaft ist, da es aus einer besonders verläßlichen Quelle stammt. Der verschwörerisch-paranoide Argumentationstypus setzt zwar stalinistische Wahrnehmungsformen mit umgekehrten Vorzeichen fort, aber er ist nicht nur sowjetisch. In einer Atmosphäre hoher ethnischer Spannungen wird er gefährlich.

Es sind Russen, die den KGB kommandieren

So konnten die Umweltzerstörungen zunächst der Wirtschaftsplanung zugerechnet werden, weil aber Russen sie kommandierten, „den Russen“. Für diese Argumentationsform scheint der Augenschein zu sprechen. Es sind Russen, die Armee und KGB kommandieren. Also sind „die Russen“ Unterdrücker, die Art ihrer Unterdrückung folgt aus ihrem asiatisch-tatarischen Charakter — oder, von Osten her gesehen, aus der kolonialistischen Arroganz der Europäer. Statt weiterer Präzisierungen, wie die, daß bestimmte Machtstrukturen existieren, bestimmte Personenkategorien sie aufgrund bestimmter Mechanismen leicht erklimmen, wird die zwar komplexe, aber beschreibbare Herrschaft zum absichtsvollen Wirken eines feindseligen und bösen kollektiven Subjekts. Das Unglück hat nun einen leicht identifizierbaren Urheber. Es sind die Russen, die ein Atomkraftwerk im Erdbebengebiet errichten, weil sie einen Genozid begehen wollen. Es sind die Russen oder ihre Zentrale in Moskau, Gorbatschow oder der KGB, die vergiftetes Fleisch in Kaufläden schmuggeln. Die Argumente klingen nicht mehr exotisch, sondern vertraut, bedenkt man die These einiger russischer Nationalisten von heute, daß die Oktoberrevolution Teil einer jüdischen Verschwörung war. Der Beweis liegt darin, daß unter den Führern Juden weit überrepräsentiert waren.

Diese nationalistische Denkform ist von Litauen bis Usbekistan die gleiche. Daß sie es mit einem unterschiedlichen Stoff zu tun hat, daß zum „Wesen“ der einen Nation der Katholizismus, zu dem der anderen der Islam gehören, daß die Zeit der nationalen Blüte bei den einen das Reich von Mingaugas und Vytautas, das der anderen die zentralasiatische muslimische Hochkultur war, führt in die historischen Spezifika. Der nationalistische Typus greift historische Formen auf, transformiert sie und präsentiert sie in modernem Gewande neu. Gleichwohl bleibt dabei aber eine Geschichte präsent, die vor den nationalistischen Einebnungen geschah. Unter ihnen sind die politischen Formen — als Reiche verschiedener Konstruktion, die Wirtschaftsformen, vor allem aber die Religionen wichtig. Die vorhandenen Gesellschaften werden mithin zwar in den modernen Kategorien wahrgenommen, entstanden sind sie jedoch im Rahmen ganz anderer Klassifikationen, die insofern präsent bleiben. So sind große historische Regionen noch immer bedeutsam, wie die orthodoxe Welt, die das Reich der Kiewer Rus' beerbte, oder die muslimische Welt, deren interne Differenzierungen sich im Zerfall der Nachfolgereiche des mongolischen Imperiums bildeten. Der moderne Nationalismus ist demgegenüber eine Tendenz, die die alten Unterschiede nicht auslöscht, sondern neue hinzufügt.

Erhard Stölting ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung des Vorworts seines Buches „Ein Weltreich zerbricht“, das demnächst im Eichborn-Verlag erscheinen wird.