Das europäische Haus des Antisemitismus

Zukunftsängste führen zu einer Stärkung des Antisemitismus in Ost und West  ■ Von Detlev Claussen

Wieder einmal rollte in diesem Jahr eine Welle antisemitischer Gewalttaten über Europa. Von Süddeutschland bis hin nach Skandinavien wurden jüdische Friedhöfe geschändet; der Höhepunkt barbarischer Provokation wurde im südfranzösischen Carpentras erreicht, wo die Täter nicht einmal die Toten verschonten. Antisemitische Gewalt im Alltag ist jedoch nicht auf Westeuropa beschränkt: Sie läßt sich beobachten, je weiter man nach Osten kommt.

Weder der Primas von Polen noch frisch gewählte ungarische Populisten verzichten auf antisemitische Unter- und Obertöne.

Auch der deutsche Vereinigungsprozeß wird von antisemitischen Scheußlichkeiten begleitet. Die Schmierereien auf dem Ostberliner Dorotheenfriedhof wie die böse Begleitmusik bei Auftritten des PDS- Vorsitzenden Gysi spekulieren auf eingewurzelte Ressentiments gegen Juden und Intellektuelle, die sich leicht mit dem verhaßten Kommunismus in Verbindung bringen lassen. Wächst also in Europa ein Antisemitismus zusammen, weil er zusammengehört?

Modernisierungsdruck lastet auf die Menschen

Europa steht unter einem starken Modernisierungsdruck. Die Menschen, auf denen er lastet, sind jedoch von unterschiedlichen Gesellschaftsformen geprägt — im Westen von der Dynamik auf dem Weltmarkt, im Osten von der zerfallenden realsozialistischen Kommandowirtschaft. Modernisierungsprozesse setzen im Europa der letzten zweihundert Jahre periodisch antisemitische Reaktionen frei, die in der kulturellen Tradition des Kontinents aufgespeichert zu sein scheinen.

Diese stereotypen Erscheinungen haben Beobachter dazu verführt, im Antisemitismus quasi eine anthropologische Konstante zu sehen. Wenn man aber nicht von vornherein vor dem Wiederaufleben des Antisemitismus kapitulieren will, muß man auf die bestimmten Unterschiede achten, die in antisemitischen Meinungen oder Bewegungen zutage treten.

Demokratischer Antisemitismus

Eine unheimliche Arbeitsteilung läßt sich seit '45 beobachten. Rechtsextremisten provozieren und setzen ambivalente Meinungsäußerungen in der Bevölkerung frei. Auf dieser Klaviatur spielt dann die offizielle Politik. Sie verurteilt scharf die antisemitische Aktion oder verbalradikale „Entgleisungen“ und rückt demokratisch das Weltbild zurecht, in dem auch das Opfer immer ein bißchen schuldig ist oder paternalistisch stigmatisiert wird. Die westeuropäischen Parteien der Neuen Rechten versuchen, zwischen der weisen staatsmännischen Äußerung und dem aktionsträchtigen Rechtsradikalismus zu vermitteln.

Antisemitismus nach Auschwitz hat in Europa und Amerika die pseudodemokratische Struktur der „Ja, aber ...“-Argumentation angenommen. Man kann sie aus dem Mund eines Schönhuber ebenso vernehmen wie aus dem eines Jenninger. Die wirren Reaktionen der Öffentlichkeit vor zwei Jahren lassen die Gefährlichkeit dieses modernisierten Antisemitismus erahnen.

Dieser Typ des — pointiert ausgedrückt — demokratischen Antisemitismus repariert das durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts schwer angeschlagene kollektive Identifikationsmuster par excellence: die Nation. Der Nationalist fühlt sich einer Elite und zugleich der Mehrheit zugehörig. Dieses Gefühl läßt sich nur aufrechterhalten, wenn es Leute gibt, die man aus dieser exklusiven Gemeinschaft ausschließen kann. Die Juden sind ein beliebtes Objekt dieser Marginalisierung. Im alltäglichen Leben werden sie aufgrund ihrer angeblichen Gemeinschaftsqualitäten und zugleich wegen ihrer phantasierten Beziehung zur gesellschaftlichen Macht beneidet.

In der anonymen Gesellschaft des Westens erscheinen sie als die personifizierten Profiteure des geschichtlichen Schicksals, die selbst den organisierten Massenmord überleben. In der personalisierten Welt des Ostens, in der die Beziehung zur Macht über die Lebenschancen entscheidet, erscheinen die Juden als die Privilegierten, die den Kommunismus erfunden, von ihm profitiert und zugleich stets gute Beziehungen zum Westen beibehalten haben.

Chauvinismus gegen Zukunftsängste

Am Fall des polnischen Primas Glemp und des Präsidentschaftskandidaten Walesa läßt sich ablesen, daß wiederaufkeimender Nationalismus und Antisemitismus nicht nur das Alte hervorbringen, das durch die kommunistischen Tabus unterdrückt worden ist. Antizionistische Kampagnen gehörten seit Ende der Vierziger Jahre zur Tradition der Kommunistischen Parteien in Osteuropa. Die Propaganda der Schauprozesse gegen Westemigranten und jüdische Kommunisten appellierte recht unverhüllt an den traditionellen Antisemitismus der ost- und mitteleuropäischen Nationen, zu deren wahren Interessenvertretern die isolierten Kommunisten sich aufschwingen wollten.

Der Appell an den Chauvinismus blieb ihre einzige Chance, überhaupt eine Massenbasis zu erlangen. Das, was man im Osten jetzt fälschlich zur „Revolution“ erklärt, zieht seine Kräfte auch aus der Kontinuität der Gesellschaften, an deren Veränderung die Kommunistischen Parteien gescheitert sind.

Die ideologischen Versatzstücke des Westens — Marktwirtschaft und Demokratie — erwecken im Osten vage Hoffnungen, lösen jedoch auch Zukunftsangst aus. Der Appell ans Nationale soll diese Ängste vor einer fremden neuen Welt beschwichtigen. Er soll zugleich die Mitschuld der einzelnen am Realsozialismus vergessen machen, der nur existieren konnte, wenn er die Mehrheit der Bevölkerung moralisch korrumpierte.

Die überlegene Moral brachte der Opposition im Osten den politischen Sieg, aber Moral kombiniert mit dem Volkszorn wird zu einer gefährlichen, unkontrollierbaren Waffe.

Schon an der Erregung um Schalck-Golodkowski ließ sich auch anderes ablesen als Empörung über Machtmißbrauch. Dem Devisenhändler wurden allzu enge Beziehungen zu Israel nachgesagt. Der Wunsch, persönlich Schuldige an der gesellschaftlichen Misere ausfindig zu machen, wird verstärkt durch das Bedürfnis, die eigene Verstrickung in die moralische Korruption des Realsozialismus vergessen zu machen.

In antikommunistischen Antisemitismus und Nationalismus schwingt immer auch Fremdenhaß und Intellektuellenfeindlichkeit mit, die den Selbstwertverlust der unter dem Realsozialismus Leidenden kompensieren sollen.

Die barbarischen Taten im Osten wie im Westen lassen aufschrecken, aber für die sublimeren Scheußlichkeiten, wie die von westlichen Medien geschürte Intellektuellenhatz, an der sich 'Spiegel‘ ebenso wie 'FAZ‘ beteiligen, fehlt die öffentliche Sensibilität.

Das Ausspielen des Gefühls gegen den Gedanken bleibt ein Abkömmling des modernen Antisemitismus. Die westlichen Medien schüren die Vorurteile: Was sie im Westen lau tabuisieren, jubeln sie im Osten zur legitimen „Volksmeinung“ hoch.

D. Claussen ist Antisemitismusforscher in Frankfurt am Main