Florentiner Sklave in Istanbul

■ Ein historischer Roman von Orhan Pamuk

Im Westen kennt man — wenn überhaupt — von der türkischen Erzählliteratur entweder Romane aus dem anatolischen Dorfleben, die Probleme der Verstädterung schonungslos kritisch darstellen — oder man kennt die sogenannte „Gastarbeiterliteratur“, eine Mitleidsliteratur, die weitgehend dem Klischee des sich nach seiner Heimat sehnenden Emigranten entspricht. Auf einer grundsätzlicheren Ebene ist jeder Konflikt zwischen Dorf und Stadt, Heimat und Ausland ein Schwanken zwischen Orient und Okzident, zwischen Tradition und Moderne. Der eben in einer gut lesbaren Übersetzung von Ingrid Iren erschienene Roman Die weiße Festung (Originaltitel Beyaz Kale) des 38jährigen türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk nimmt jene Beziehung der westlichen und der orientalischen Kultur zum Thema und schildert sie dort, wo sie begonnen haben könnte: im 17. Jahrhundert, zur Zeit des gegen die Venezianer kämpfenden Großwesirs Köprülü Mehmet und des Sultans Mehmet IV.

Auf der Fahrt von Venedig nach Neapel wird ein venezianisches Schiff von Türken aufgebracht und ein Florentiner, der Ich-Erzähler, als Sklave nach Istanbul verschleppt, wo er schließlich bei einem Hodscha landet. Der Hodscha, ein Gelehrter und Vertreter der osmanischen Intelligenz, strebt begierig nach westlicher Kultur und Wissenschaft. So beginnt die seltsame Beziehung zwischen dem naiv-neugierigen und ehrgeizigen Orientalen, dem Herrn, und dem selbstgefälligen Europäer, dem Sklaven, der in seiner Heimat reiche Kenntnisse in Astronomie, Medizin und Technik erworben hat. Doch der Hodscha, das meint der Italiener manchmal zu spüren, ist im Besitz eines nicht erlernbaren, tieferen Wissens. Der eigentümliche Reiz dieser Figurenkonstellation — ein fast surrealer und unheimlicher Grundzug der Geschichte — liegt in der verblüffenden Ähnlichkeit zwischen dem Hodscha und dem Italiener. Wenn einer den anderen betrachtet, glaubt er, in einen Spiegel zu sehen. Abgeschlossen von der Außenwelt, vergraben sie sich in ihre gemeinsamen Studien und Experimente:in die Herstellung eines knallenden bunten Feuerwerks, das anläßlich einer Hochzeit am Goldenen Horn abgebrannt werden soll, in die Konstruktion einer Gebetsuhr, in die Erforschung der Sterne („Wie halten sich die Sterne in der Luft?“). Einander wie Zwillinge am Tisch gegenübersitzend und über die alten Bücher der Weisheit gebeugt (den Almagest des Ptolemäus; die astronomischen Observationen des Takiyüddin), entwickelt sich zwischen den beiden ein zwischen Zuneigung und Haß, Bewunderung, Gewalt und Sadismus abwechselndes Verhältnis.

Die Frage nach der Wertigkeit der beidenKulturen hebt Pamuk auf im Doppelgänger- und Spiegelmotiv. Der Hodscha, der schon im Laufe der Geschichte bekennt: „Ich bin wie du geworden“, flüchtet an Ende nach Italien, während der Italiener, der mehrmals die Vision von der Verlobung des Hodscha anstatt seiner in Florenz hatte, bleibt in Istanbul als Gelehrter zurück. Ein Rollentausch findet statt, und mit dieser spielerischen Versuchsanordnung widerspricht Orhan Pamuk spöttisch der Ideologie des „East is East and West is West“. Auf diese Weise ist der Roman auch ein Bruch mit dem bürgerlich-bürokratischen Geist der Jungtürken — von dem Generationen von Intellektuellen geprägt sind, die glauben sollten, in einem orientalischen Land als Europäer zu leben. Man ärgerte sich aufrichtig darüber, wenn die Zeitungen einen Mann mit dem traditionellen Fez abbildeten, oder wenn gesagt wurde, die türkische Geschichte und Kultur seien orientalisch geprägt. Diese zwanghafte Wahrnehmung und Leugnung eines Eigenen, beobachtbar in der Türkei bis heute, könnte für Orhan Pamuk ein Motiv gewesen sein, diese Geschichte zu erzählen. Indem er den Florentiner und den Hodscha gemeinsam forschen und nachdenken läßt, macht er auf das Niveau des Orients im Bereich der Naturwissenschaft und Philosophie aufmerksam. Zugleich verdeutlicht er Unterschiede (z. B. den Fatalismus der Osmanen im Umgang mit der Pest im Gegensatz zu den Hygienemaßnahmen, die der Italiener vorschlägt), aber auch Ähnlichkeiten (beide sind Kinder ihrer Zeit und vom ptolemäischen Weltbild geprägt).

In der absolutistischen Atmosphäre machtgieriger Paschas und eines minderjährigen Padischahs treffen zwei Figuren zusammen, die es dem Autor ermöglichen, ein schillerndes kulturhistorisches Bild jener Epoche zu zeichnen, ohne den Leser mit ermüdenden Einzelheiten zu langweilen. Celal Özcan

Orhan Pamuk: Die weiße Festung. Aus dem Türkischen von Ingrid Iren. Insel Verlag, 213 S., geb., 30 DM.