Tertium datur

■ Bellizisten und Pazifisten müssen in die Logik der Politik zurückkehren DEBATTE

Krieg mobilisiert die Vorurteile. In den Vorurteilen verschränken sich Interesse an der Selbstdarstellung und Affekte. Vorurteile können Abbreviationen eigener Erlebnisse sein, die aber so sehr verkürzen, daß sie die Wahrnehmung der Realität behindern. Der Krieg läßt kaum Zeit zum Nachdenken; Krieg emotionalisiert und verstrickt. „Weit vom Schuß“ zu sein, könnte die Cance bedeuten, Abstand zu nehmen und zu wagen, sich seines eigenen politischen Verstandes zu bedienen. Aber die Live-Nähe der Medien, von denen jeder weiß, daß sie manipuliert und zensiert sind, verhindert Reflexion. Die endlosen Talk-Shows, der endlose Austausch von Expertenmeinungen wird ergänzt durch die gut ausgeleuchtete Betroffenheitsdiskussion, die Meinungsbilder sogenannter unschuldiger Opfer simuliert. Gekrönt wird die mediale Verarbeitung des Krieges durch eine spezifische Form des Taubstummendialogs, das gemischte Doppel von Kriegsbefürwortern und Kriegsgegnern, das regelmäßig — vor laufenden Kameras — zur Polarisierung der Dummheiten führt.

Aber auch Medienkritik ist in Kriegszeiten wohlfeil. Man kann leicht die Medien als bloße Propagandamaschinen abtun; doch bleiben Zeitung, Rundfunk und Fernsehen die wenigen — wenn auch vergifteten — Quellen unserer Wahrnehmung.

Die Menschen werden durch die „manipuliert-aufgeklärte öffentliche Meinung“ (Adorno 1944) auf ihre Gefühle zurückgeworfen — auf das Unbewußte, das Angst macht, weil es fremd ist. Viele halten es nicht vor dem Fernseher aus, gehen auf die Straße, geben ihrer Angst Ausdruck. Die medial bearbeitete Wirklichkeit erscheint spiegelverkehrt auf den Demonstrationen als emotional bearbeitete Wirklichkeit. Beide, Medien wie Demonstrationen, zielen auf Emotionen und Affekte, beide sind legitim. Aber wer die Medien kritisiert, darf die Demonstrationen von Kritik nicht verschonen. Der Krieg ernährt die Leidenschaften der Kriegstreiber und der leidenschaftlichen Kriegsfeinde, der Bellizisten und der Pazifisten.

In einem Konfikt wie diesem kann man weder Bellizist noch Pazifist sein. Bellizisten wie Pazifisten demonstrieren Gesinnung und Gefühl — Tote nehmen beide in Kauf und werfen es sich gegenseitig vor. Aber man kann diesen Krieg für notwendig halten, ohne ein Schwein zu sein — und man kann diesen Krieg ablehnen, ohne sich den Vorwurf der Unmoral oder des Apolitischen gefallenlassen zu müssen. Für eine politische Entscheidung in diesem Dilemma muß man analysieren und argumentieren: Man muß auch kein Bellizist sein, man muß auch kein Pazifist sein. Tertium datur.

Im Deutschland dieser Tage erschreckt die Übermacht der Gefühle und Gesinnungen. Gesinnungen sind jedoch nichts anderes als die Janusköpfe ambivalenter Gefühle — sie lassen sich so oder so manipulieren. Der Pazifist von heute kann der Bellizist von morgen sein — und umgekehrt. In der Nacht des Kriegsausbruchs kam es zum Ausbruch pazifistischer Demonstrationen — nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA. „No blood for oil“ ließ sich leicht übersetzen: „Kein Blut für Öl“. Die Parole trifft den Sachverhalt nicht — sie verkürzt ihn nicht nur wie alle Parolen, sondern verzerrt ihn bis zur Unkenntlichkeit. Zwischen Verkürzung und Verkehrung besteht ein Unterschied, der den ganzen Sinn verändern kann. In den USA ging dem Kriegseintritt eine lange und harte Diskussion voraus, ob die Politik des Präsidenten nicht eine Schlacht herbeiführe, die das politische Ziel — Rückzug der irakischen Truppen aus Kuwait — nur mit einem hohen Blutzoll erreichen könne, wenn man nicht gar von der Logik des Krieges zu anderen Zielen getrieben würde. Die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Golfpolitik-Kritiker verurteilte eindeutig Saddam Husseins Aggression; aber sie stellten die legitime Frage, ob sie selbst ihr Leben für ein Kriegsziel riskieren sollten, das zwar legitim sei, aber hinter dem noch andere Motive stehen könnten. Es gab genügend Gründe zur Kritik an der Politik des Präsidenten. Aus Angst, die Durchsetzung der UNO-Resolution wäre ein zu schwaches Argument, begründete er zeitweise das Engagement mit ölstrategischen Notwendigkeiten. Aus diesem Vulgärmaterialismus des Präsidenten, der schlichtweg gar nichts begründet, bezog die Parole „No blood for oil“ ihre polemische Kraft. Zur Erklärung des Konflikts trägt sie nichts bei. Sie repräsentiert schlecht, aber recht das Interesse, in einem Konflikt wie diesem nicht sein Leben lassen zu wollen.

Die sich in Deutschland Mitte Januar wie ein Lauffeuer verbreitende Parole „Kein Blut für Öl“ nahm einen anderen Charakter an. Sie wurde als politische Zauberformel benutzt, die alles erklärt. Die Tatsache hat sich schon allgemein herumgesprochen, daß Kriege nicht wegen der Kriegsbegeisterung, sondern wegen anderer Gründe geführt werden. Pazifistische Argumentationen trauen ihrer eigenen Schlüssigkeit nicht; daher suchen sie nach den wahren materiellen Triebkräften. Im Stile einer Entlarvungspolitik wird dann das Öl als Symbol des gesellschaftlichen Reichtums, als eigentliches Motiv des Kriegsübels herausgestellt. Die altväterliche Lebensmaxime „Geld regiert die Welt“ wird modernisiert: „Öl regiert die Welt“. Und wer das Öl hat, hat die Macht. Doch so neu, wie das scheint, ist diese Weltsicht in Deutschland gar nicht. In jedem mittelständischen Bücherschrank fand sich noch vor einigen Jahren neben Hans Grimms Volk ohne Raum der alte Bestseller Anton Zischkas Der Ölkrieg. Diese Werke stehen in der Tradition deutscher Griffe nach der Weltmacht, der Polemik gegen das „perfide Albion“ und gegen den langnasigen alten Uncle Sam, gegen Rockefeller und später Roosevelt. Aus dem deutsch-nationalistischen Kolonialneid hat sich ein Antiamerikanismus entwickelt, der nichts anderes als ein Antiimperialismus der dummen Kerls geworden ist. Ein Antiimperialismus, der keine vernünftige Alternative zum gesellschaftlichen System angeben kann, verkümmert zum nationalistischen Ressentiment der Zukurzgekommenen. Was Philo- und Antiamerikanismus gemeinsam ist, ist ein verschwiemeltes Verhältnis zur Macht, die man selber nicht hat. Die einen möchten an ihr partizipieren, die anderen flüchten sich aus der realen politischen Ohnmacht in das Gefühl moralischer Überlegenheit, wenn sie Öl und Blut an den Fingern der anderen kleben sehen.

Aus der Ohnmacht der ersten Kriegstage scheint der unpolitische Friedenswille der Demonstrationen verständlich; aber nichtsdestotrotz erschreckt der emotionalisierte antiamerikanische Grundton. Washington erscheint als eine Zentrale im Reich des Bösen, in dem Verschwörungen gegen unschuldige Opfer auf der ganzen Welt ausgeheckt werden. Die Ohnmacht klagt die Macht an, das Opfer den Täter, das Gute das Böse — ein manichäisches Weltbild ist perfekt, eine Zweiteilung der Welt nach Schwarz und Weiß. Wenn man aber alle auf der Welt Handelnden für gleich schlecht hält, kann man sich nicht mehr an Unterschieden orientieren. Aus dem vermeintlich Mächtigeren macht man den Hauptschuldigen. Die Dynamik eines unpolitischen Pazifismus' in diesem Konflikt ist unvermeidlich antiamerikanisch. Aber man kann sich als eine politische Kraft aus der Geschichte nicht fortstehlen, um seine moralische Sauberkeit zu bewahren. Saddams Raketenangriffe auf die israelische Zivilbevölkerung mitsamt seiner Giftgasdrohung stellt die Frage nach dem Verhalten in diesem Krieg politisch: Liefert man Raketenabwehrsysteme zum Schutze Israels oder nicht? Eine gesinnungspazifistische Antwort auf diese Frage ist eine politische Bankrotterklärung. Mit dieser Entscheidung gerät man in der Tat in die Logik des Krieges. Man muß sich entscheiden, welche Mittel man zur Beendigung dieses Konflikts befürwortet und welche man ablehnt. Das unterwirft den Krieg der Logik der Politik. Detlev Claussen

Die hier leicht gekürzte Rede hat der Frankfurter Soziologe und Publizist auf der Veranstaltung „Einsprache gegen Irrationalitäten in der Diskussion um den Golfkrieg“ am vergangenen Donnerstag in Frankfurt gehalten.