Abstraktionsidylle

■ Die Grünen in der Weltrisikogesellschaft ESSAY

Daß die Grünen auf dem Weg in den ersten großen deutschen Bundestag an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind, dafür lassen sich (mindestens) zwei Erklärungen anführen: erstens eine nicht-grüne, realistisch-zynische, zweitens der politische Sadomasochismus der Grünen (öffentliches Tranchieren der Spitzenkandidaten, die Vorliebe für rotierende Inkompetenz usw.).

Nach der ersten Erklärung ist das Schicksal der Grünen nicht primär von ihrem eigenen Verhalten abhängig. Soziologisch gesprochen: endogene Erklärungen — Verschiebungen in der Sozialstruktur sind auf Variablen der Sozialstruktur zurückzuführen, Wahlerfolge oder das Gegenteil auf das Verhalten der Parteien usw. — verlieren in der Weltrisikogesellschaft an Plausibilität. Exogene Entwicklungen und Ereignisse — Reaktorunfälle in anderen Erdteilen, der Zusammenbruch des Mauersozialismus, der Ausbruch des Golfkrieges und welche Gruseleien die Geisterbahn der Geschichte noch in ihrem Dunkel parat halten mag — verändern bis in alle Einzelheiten hinein die gesellschaftliche Tagesordnung und die politischen Prioritäten.

Der Blick um die Ecke der Zukunft erlaubt die Prognose, daß wir stürmischen, kriegerischen Zeiten entgegengehen, und zwar nicht nur im „fernen“ Arabien, sondern auch vor unserer östlichen Haustür: der drohende Kollaps der atomaren Großmacht Sowjetunion, Bürgerkriege innerhalb und zwischen exsozialistischen Staaten, Fluchtbewegungen, mobile Armut über die Grenzen und Erdteile hinweg und als Reaktion eine Modernisierung der Apartheid in Deutschland und Europa. Alles Themen, die wahrscheinlich Ängste und Ordnungsparteien begünstigen, in jedem Fall das große Neureich — reich auch als Gegensatz von arm! — Deutschland in seinem Selbstverständnis erschüttern und spalten werden. Dabei muß man noch nicht einmal darauf hinweisen, daß noch bis 1994 in der alten DDR 340.000 Sowjetsoldaten stationiert sind, um zu erkennen, daß Militärpolitik, Waffenexporte, sogar geopolitische und militärische Schachzüge in den kommenden Jahren eine überraschende Renaissance erfahren werden. Es klingt für viele Ohren paradox: Das Ende des kalten Krieges ist nicht der Anfang des ewigen Weltfriedens, sondern die Wiederbelebung der ethnischen, nationalen und religiösen Rivalitäten und Konflikte des 19.Jahrhunderts, Kriege eingeschlossen.

Die „chirugische Operation“, die das Militär zur elektronischen „Enthauptung“ des Irak in seiner Technikeuphorie versprochen hatte, wird, wenn sie dann nicht den großen Weltbrand entfacht, jedenfalls eines zur Folge haben: das hemmungslose Aufrüsten überall auf der Welt. Der Irak-Krieg ist eine Leistungsshow, eine blutig ernste Demonstrationsmesse moderner Waffensysteme. Er beweist, daß Kriege auch von demokratischen, friedliebenden Nationen als „gerechte“ Kriege geführt werden können und damit mindestens als Rüstungsimperative wieder allgegenwärtig werden. Der Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa beruhte, im Rückblick betrachtet, auf dem Gleichgewicht des Schreckens im Ost-West-Gegensatz. Wie eine Friedensordnung jenseits des Ost-West-Gegensatzes aussehen könnte, ist angesichts der Instabilitäten in Europa und anderen Erdteilen ganz und gar unklar.

Dagegen alleine Kerzen anzünden und Frieden zu fordern dürfte — sagen wir mal vorsichtig — etwas unterkomplex sein. Dennoch gewinnt gerade das auf die Straße getragene Erschrecken über den Ausbruch des Golfkrieges seine nachhaltige Bedeutung als Demonstration dafür, daß hier mit militärisch-technikgläubiger Hemdsärmligkeit ein kulturelles Tabu gebrochen, eine Hemmschwelle in ein neues elektronisches Militärzeitalter überschritten wurde. Wir wissen jetzt: Auch dies geschieht mit der Euphorie des schnellen Sieges, die der industrialisierte Militärapparat verkündet. Hinzu kommt die beängstigende, verstaubte, augustinische Figur des „gerechten Krieges“. Diese wirkt so irritierend, weil ihre Evidenz angesichts der irakischen Bedrohung Israels mit deutschem Giftgas durch einen allgemeinen Gesinnungspazifismus nicht zu entkräften ist.

Was hat das alles mit den Grünen zu tun? Sehr viel. Ich fürchte: Innenpolitik wird in den nächsten Jahren in einer aus den Fugen geratenen Welt von Außenpolitik dominiert. Wie sieht eine „grüne“ Außenpolitik und Militärpolitik aus? Ist das nicht ein schwarzer Schimmel? Was man dazu bisher im Bundestag beispielsweise zur Palästinenserfrage und zum israelisch-arabischen Konflikt hören mußte, war so verquetscht deutsch, stimmt selbst eingefleischte Sympathisanten wenig optimistisch.

Die Neuen Grünen (vielleicht könnte man sie so nennen) müßten, um politische Fahrt und Zugkraft zu gewinnen, ihre Geburtsbornierungen abstreifen, jene eigenartige Mischung aus Hurra-Moralismus, Prinzipientreue und Systemüberwindung, die im Vergessen ihrer Herkunft so urdeutsch ist wie nur irgend etwas. Wenn es gelingt, die Unruhe und Unsicherheit dieser Gesellschaft im Vordenken und Aushandeln der Widersprüche zwischen ökologischer Bedrohung und Freiheit, Friedenssehnsucht und Friedenssicherung zur Sprache zu bringen und politsch in Richtung auf eine Utopie der ökologischen Demokratie voranzutreiben, ist mir um die Zukunft der Grünen nicht bange.

Anders gesagt: die Grünen müssen den dialektischen Sprung vom Abstrakten ins Konkrete, von der Kritik in den besseren Vorschlag, vom Menschheitlichen in die kulturelle Bedeutung hier und jetzt wagen. Es gibt eine lange Geschichte der Abstraktheit, die für die alte Bundesrepublik erst noch geschrieben werden müßte. Ebenso wie die Studenten 1968 den Vietnamkrieg auf den Straßen Berlins beenden wollten, ebenso wollten die Grünen im Bundestagswahlkampf 1990 das Ozonloch gegen die Wiedervereinigung ausspielen. Wieder ähnlich halten viele Linke gegen die Erfahrung des zusammengebrochenen Mauersozialismus an ihrem reinen Prinzipiensozialismus fest. Um das jüngste Beispiel herauszugreifen: Die Frieden- an-sich-Bewegung will den Krieg am Persischen Golf auf den Straßen im Zuschauer- und Zuliefererland Germany stoppen.

Schließlich die abstrakte Diskussion im Bundestag, wer über den Bündnisfall der Nato entscheidet — die Regierung oder das Parlament. Will man etwa die Bundeswehrsoldaten aus der Türkei ausfliegen, wenn die ersten Raketen dort einschlagen? Das hat alles etwas Rührendes, Anrührendes, ist bewegt und bewegend, aber doch auf eine selbstunbewußte Weise deutsch: Auch das grüne Thema steht für eine Abstraktionsidylle meiner Generation. Im Absehen auf das Allgemeinste und Größte wird von den konkreten historischen Ursprüngen und Zwängen abgesehen. Die ökologische Frage verleitet zu einer Denkprovinz im Weltmaßstab. Alles ist hier so unlösbar, so beängstigend bedrohlich, und man bedarf, um auch nur ein Zipfelchen dessen zu verstehen, was hier kontinuierlich hereinbricht, so viel naturwissenschaftlichen Untergangswissens, daß man darüber blind bleibt oder wird gegenüber den kulturellen und politischen Bedeutungen, die sich auch noch dahinter verbergen. „Rettet die Natur!“ ist ein Menschheitsthema, gut, unverdächtig, überparteilich, überaus dringlich und moralisch selbst dort, wo von Moral eigentlich nicht mehr die Rede sein kann. Es erlaubt in einem Gütigkeitsüberschuß, von allem Bösen gereinigt, wie die Väter zu fordern: Am ökologischen Wesen soll die Welt genesen. Die Ökologiebewegung — das hat die Achterbahn- Geschichte der letzten Jahre aufgedeckt — hat nicht nur ein Defizit an pragmatischer Politik. Sie ist auch in ihrem Selbstverständnis ahistorisch, vergangenheitslos, ein klinisch-analytisches Produkt der Stunde-Null- Generation, kulturell insensibel und oft auch blind für das doppelte Spiel, das gerade im ökologischen Konflikt möglich wird, das Schüren nationaler Dogmatismen und die Schaffung neuer Abhängigkeiten im Verhältnis zwischen Ländern, Erdteilen und Kulturen. Ulrich Beck

Beck ist Soziologe in Bamberg und zur Zeit Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin.