„Gebraucht wird ein Gesundheitswesen mit sozialem Blick“

■ Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, sieht in den ostdeutschen Polikliniken eine Alternative zum verknöcherten BRD-Gesundheitswesen

taz: Im Westen der Bundesrepublik wird das DDR-Gebilde Polikliniken mit großer Skepsis betrachtet. Woher kommt die Kritik?

Ellis Huber: Die westdeutsche ärztliche Standespolitik dämonisiert Polikliniken, ohne genau zu wissen, worum es überhaupt geht. Polikliniken sind ja keine Errungenschaft des Sozialismus. Schon lange, bevor es ein kommunistische Manifest gab, entstand die Vorstellung, in der ambulanten Versorgung gemeinschaftlich, berufsgruppenübergreifend, möglichst ganzheitlich Kranke und Pflegebedürftige zu betreuen.

Die Poliklinik als Begriff ist in der bundesdeutschen Ärztepolitik negativ besetzt, weil früher Polikliniken von Krankenkassen selbst betrieben worden sind. Durch Streiks der Ärzteschaft, nach heftigen Auseinandersetzungen und Kämpfen ist es zu einer Trennung zwischen Erbringern der ambulanten ärztlichen Dienstleistung und den Finanziers gekommen. Diese historische Trauma westdeutscher Ärzte wird jetzt schlicht auf den Osten übertragen. Das ganze ist auch eine Frage der Massenpsychologie. Die Schwierigkeiten der ambulanten ärztlichen Versorgung und die Reformbedürftigkeit dieser Versorgung im Westen wird über den Osten verdrängt. Man projiziert die eigenen Mängel auf das andere, fremde System und schlägt das dann tot.

Wären die Polikliniken — sieht man von ihrer materiellen Armut ab — eine wirkliche Alternative zur ambulanten Versorgung im Westen?

Wenn die Armut keine Rolle mehr spielt, ist die dort geleistete integrierte Arbeit eine wirkliche Alternative. In diesen Einrichtungen finden wir eine Versorgungsorientierung, die höchst modern ist, weil sie medizinische und psychosoziale Hilfe zusammenfaßt. Richtig ist zweifelsohne, daß die Leitungsstrukturen und Teamverhältnisse in den poliklinischen Einrichtungen nicht unbedingt gut sind. Die Leiter sind häufig eher aus politischen Gründen ausgewählt worden, die Teams sind in der Regel Zwangsgemeinschaften. Außerdem haben wir auch hier die Probleme aller zentral verstaatlichten Versorgungssysteme: Der einzelne Hochmotivierte und Fleißige wurde genauso gut oder schlecht behandelt wie derjenige, der die individuellen Interessen gut gebettet in einer staatlichen Versorgungslandschaft ausgelebt hat. Das hat unter den Ärzten sehr viel Mißmut und Unwillen geschaffen.

Bei den Kritikern des poliklinischen Versorgungssystems herrscht die Überzeugung vor, die Einrichtungen hätten unwirtschaftlich gearbeitet.

Die gesundheitliche Versorgung in den ostdeutschen Ländern war durchaus wirtschaftlich. Angesicht der mageren materiellen Ausstattung sind dann die Leistungen in der Krankenversorgung durchaus beachtlich. Das heißt, daß die Ärzte, die wirklich gearbeitet haben, ein Übermaß an Leistung erbracht haben, auch ein Übermaß an Wirtschaftlichkeit im Sinne einer volkswirtschaftlichen Bewertung.

Nun müßte die wirtschaftlichste Grundversorgung ja nicht unbedingt durch Polikliniken geschehen...

...Das ist aber genau der Punkt. Das Dilemma der ambulanten ärztlichen Versorgung in der alten BRD ist ja gerade unsere Monokultur. Es gibt nur die Möglichkeit, sich als freier kleiner Unternehmer niederzulassen und in einer Einzelleistungshonorierung die eigenen Tätigkeiten abzurechnen. Und im Westen gilt es als besonders ökonomisch, wenn man in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Rezepte ausstellt, möglichst viele Spritzen verabreicht oder diagnostische Untersuchungen durchführt. Das Gesundheitswesen in der alten Bundesrepublik stellt eine gigantische Vergeudung von volkswirtschaftlichen Mitteln zugunsten eines Systems dar, das weniger den Kranken hilft, als die Pfründen der pharmazeutischen Industrie, der Diagnosegerätehersteller und dergleichen sichert.

Sehen Sie eine realistische Überlebenschance für das Modell Poliklinik?

Die meisten Polikliniken zerbrechen an den inneren Widersprüchen im Personalkörper. Es herrscht eine flächendeckende Entsolidarisierung. Jeder einzelne ostdeutsche Bürger versucht im Augenblick, seine individuelle Haut zu retten. Alternativen zum Niederlassungssystem des Westens werden im Osten nur sporadisch in Einzelfällen entstehen können. Sie werden sich auch an dem ausrichten, was kritische Mediziner im Westen probieren und propagieren.

Da scheint es ja nur logisch, daß die stärksten Befürworter der Erhaltung von Polikliniken bei kritischen Westlern zu finden sind.

Nein. Die Grundorientierung von der Sache her ist in beiden Teilen Deutschlands gleichermaßen bei progressiven, sensiblen Ärzten vorhanden. Unsere Aufgabe ist es nun, den Kolleginnen und Kollegen in den neuen Ländern den Westen nicht als goldene Lösung zu verkaufen. In dieser Hinsicht herrscht bei den Standesfunktionären der westdeutschen Ärzteschaft eine gesellschaftspolitische Verantwortungslosigkeit.

Die ostdeutsche Bevölkerung steht vor tiefgreifenden sozialen Wandlungsprozessen, die auch für die Gesundheit der Bevölkerung ganz krisenhafte Ursachen für Krankheiten bis hin zu ansteigenden Suizidwellen sind. In dieser Situation, in der auch etwas von Sicherheit, Geborgenheit und Ruhe für die Bevölkerung bereitgestellt werden muß, bedarf es eines Gesundheitswesens, das auch einen sozialen Blick entfaltet. Interview: Barbara Geier