Provinzonkels und New-Age-Partisanen

■ Drittklassige Westjournalisten mokierten sich über die "Drittklassigkeit" der Leipziger Buchmesse. Doch alles war ganz anders: Während sich große Geister über die Psyche des Ostlers an und für sich...

Westjournalisten erscheint Leipzig als graue Vorhölle. Viele der jungen Einwohner meinen dagegen, die Stadt sei eine der interessantesten in Deutschland. Die Stadt teilt sich inzwischen, glaubt man der Schrift an einer Wand: in „antilinke Zonen“ und den Alltagsraum der „Fünf für Leipzig“: 'Bild‘, 'Bild am Sonntag‘, 'Bild der Frau‘, 'Sport- Bild‘ und 'Auto-Bild‘ werben weiß- rot und straßenüberspannend am Eingang der Fußgängerzone. Während der Buchmesse wurden die fünf ergänzt durch Transparente für die 'Frankfurter Rundschau‘, 'Süddeutsche Zeitung‘ und 'FAZ‘. Die Leipziger 'daz‘ allerdings, publizistischer Rest des Umbruchs, ist pünktlich zur Buchmesse eingegangen. Nur als Klang lebt sie weiter, denn in „Leipsch“ gibt es kein hartes t.

Die dritte Garde der großen Westverlage sei nur dagewesen, beschwerte sich die dritte Garde der Westjournalisten. Tatsächlich mußten viele Rowohlt-, Knaur- oder Bastei-Lübbe-Agenten zur Messe „verdonnert“ werden und meckerten den ganzen Tag herum, während sich die anderen amüsierten und launig beim morgendlichen Aperitif mit der ersten Garde der 'Frankfurter Rundschau‘ über DDR-Mentalitäten plauderten oder bei Rowohlt flüsternd mitgeteilt bekamen, daß Rainald Goetz, unbestrittener Star der jungen westdeutschen Literaturszene, in Frankfurt oder vielleicht auch nächstes Jahr in Leipzig mit einem 4.000seitigen Buch herauskommen wird, dessen Titel schon feststeht: Katarrakt. Was das heißt, wußte keiner.

Kafkaeske Sisyphosarbeit

Unter dem Titel Vereint aber fremd sezierte man an einem langen Nachmittag in der „Mehring Buchhandlung“ die Psyche des Ostlers. Lothar Baier, Feuilletonchef der 'Frankfurter Rundschau‘, sah das Problem darin, daß sich Freiheit nicht diskreditieren lasse, sondern freiwillig angenommen werden müsse; Chefredakteur Werner Holzer erkannte, daß man hier als Nachwirkung einer autoritären Gesellschaft alles an den Staat delegieren wolle, der Schriftsteller Jürgen Fuchs spürt im Alltag der Fünf Neuen Länder immer noch die „psychische Seite der Diktatur — die Depression, die politisch alles kaputtmachen kann“ und der Ostberliner Soziologe Professor Engler meinte, daß der „Obrigkeitsstaat in den Köpfen“ noch immer nicht zusammengebrochen sei, weil es in der DDR nie ein antiautoritäres 1968 gegeben habe. Die Diskussion über „Ossies“ und „Wessis“ erlebte eine interessante Fortsetzung; während die einen — meist Ostbürger — forderten, man solle doch diese Wörter nicht mehr gebrauchen, schließlich wäre man ja vereinigt, meinten die anderen, daß das umgangssprachliche „Ossi-Wessi“ zwar nicht schön sei, aber doch einen Unterschied gerade deshalb so gut aufzeigen könnte, weil dieser Unterschied gleichzeitig nicht ernst genommen würde.

Schön waren die Geschichten, die der große alte Mann liberalen Zeitungswesens — Herr Holzer eben — zu erzählen wußte: So hätte man nach der Wende viele Freiabonnements an Intellektuelle verschenkt, die in Briefen dann erzählten, daß ihnen die Zeitung zwar gefalle, doch es gäbe ja so viele Meinungen, die sich widersprächen, und man wisse gar nicht, was denn nun richtig sei, und außerdem sei die Zeitung zu dick, und es dauerte stundenlang, bis man alles durchgelesen habe. Schöne Vorstellung, daß die Ostleser die ganze Zeitung durcharbeiten und so der Oberflächlichkeit des Westlesers eine fast kafkaeske Sisyphosarbeit entgegensetzen.

Die Orientierungslosigkeit ist groß im Osten. Kein Wunder also, daß fast ein ganzes Stockwerk von verschiedenen christlichen Verlagen beherrscht wurde. „Der Westen ist, was Religionen betrifft, gesättigt. Im Osten dagegen spüren viele Menschen eine große Leere“, sagte ein Leipziger Verlagschrist. „Die Bürger wenden sich entweder der PDS zu, oder finden den Weg zu Gott.“ Gefragt aber sind andere Bücher als im Westen, weiß eine Frau vom süddeutschen Claudius-Verlag. „Bücher über Weltanschauungsfragen und Bücher über Sekten sind der Renner.“

Während bei den Christen im fünften Stock würdevoll und still ein paar Mönche an rotgesichtigen, biertrinkenden, Brezeln essenden Lutheranern vorbeischlendern, gibt man sich bei „Edis — Deutschlands größtes Spezialsortiment für Esoterik“ eher alert, glatt und vor allem: erfolgreich. Die zwei Verlagsvertreter in ihren Konfirmations- oder Jugendweiheanzügen reden so, als handele es sich beim „Ostmarkt“ um ein Gebiet, daß es militärisch zu erobern gelte. Zunächst betreibt man zwar noch „direct mailing“ (Postversand), doch setzt man vor allem auf mehr „Stützpunkte“, die interessierte Buchhändler — quasi als New- Age-Partisanen — einrichten müßten, erzählt Standchef Ekkehard Groll.

Angst vor der „linken“ Ecke

Der „Provinzonkel“ des Weimarer Aufbau Verlages zieht tagtäglich von Stand zu Stand, um mit kleinen Scherzen zur Erheiterung beizutragen. Der „Aufbau-Lektor“, seit 25 Jahren im inzwischen arg dezimierten Verlagshaus — von ehedem 180 sind nur noch 53 Mitarbeiter beschäftigt — trinkt seinen Kaffee stets mit Weinbrand. Denn „mit der Mischung überlebe ich am besten“. Konrad Paul ist wie die anderen Vertreter ehemaliger DDR-Verlage dabei zu lernen, „was Marktwirtschaft ist — nämlich Rechnen“. Mit der Messe ist er mehr als zufrieden. „Das Interesse der Medien und der Leser hat alle Erwartungen übertroffen“, sagt er oder: „Vom Ideellen her klappt alles. Wenn jetzt noch die Gunst der Buchkäufer hinzukommt, kann gar nichts schiefgehen.“ Im Vorbeigehen beschwert sich Herr Paul noch einmal über die mangelnde Qualität ehemals mißliebiger DDR- Autoren: „Überlegen Sie sich nur, wer hier zu den politisch mißliebigen Dichtern gehörte — die hatten doch überhaupt nicht das Kow-how zu solchen Taten.“

Bei den meisten anderen ostdeutschen Verlagen hört man Ähnliches; das Interesse sei groß, die Buchmesse würde sich lohnen, im Westen verkaufe man mehr als im Osten, und wenn sich die Lage im Osten normalisiert hätte, würden die Leser auch wieder anderes „als Trivialliteratur, Krimis, Pornos und Steuertips“ lesen. Viele haben allerdings noch damit zu kämpfen, daß man ihr Programm in der „linken Ecke“ ansiedelt. Anders als in der Westkultur, wo es immer schick ist, ein linkes Image zu haben, ist hier „links“ ein durch und durch diskreditierter Begriff. Weil die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international zum Beispiel als links gilt, würden die Leipziger sich kaum noch an Unterschriftensammlungen beteiligen.

Ein Tag auf der Messe

Auf dem Weg zur Messe trifft man jeden Morgen auf „Charlie“, eine fast einen Meter große bunte elektrische Clownspuppe, die in einem Plexiglasautomaten herumwackelt und ständig krächzend plärrt: „Ich hab' dich lieb“ oder „Alle Kinder haben Spaß mit Charlie“. Die Kinder stecken eine Mark in einen Schlitz, und dann kriegen sie lustige Überraschungen aus Plexiglaskugeln. Charlie ist ziemlich gruselig. Man wendet sich ab und flüchtet in die Fahrstühle. Hier stehen zumeist ältere Herren, die für vier Mark die Stunde, zehn Stunden am Tag Messebesucher und -teilnehmer in die verschiedenen Stockwerke fahren.

Jeden Morgen begegnet man einem dicken Mann, der ein bißchen aussieht, wie der verblödete Frankfurter Dezernent für „Multi-Kulti“. Der Mann wedelt mit einen aufblasbaren großen Handschuh, auf dem „RTL“ steht. Bunte Lampen leuchten an seinem Stand. Der Mann heißt Augustus Hofmann. Er ist Künstler; wenn er nicht auf der Buchmesse ist, trommelt er zu Hause in Köln in den U-Bahnhöfen unter dem Motto „Herzen vor, noch ein Tor“ für mehr Verständnis. In erster Linie ist er jedoch begeisterter Fernsehzuschauer und seit mehr als 10 Jahren mit großem Ethusiasmus und persönlichem Einsatz bei unzähligen Fernsehshows live dabei. 1987 hat er aus seiner Passion eine Profession gemacht und forscht ungebeten und akribisch im Dienste entwürdigter, belogener und betrogener Zuschauer. „Der Kampf mit dem Fernsehen ist so unvermeidlich wie aussichtslos“, sagt Augustus Hoffmann, doch sein Chronist Hansgünther Klück hat zumindest die Stationen seines Kampfes aus Briefwechseln mit den Fernsehanstalten, Selbstzeugnissen und sonstigen Dokumenten zu einer großartigen, lustigen und informativen Alltagsuntersuchung zusammengefügt. Sein Buch heißt Der Profizuschauer oder Chronik eines unvollendeten Aufstandes.

„Flasche leer, Schnauze voll“

Ein sanftes Durcheinander herrscht am Morgen zwischen Standbetreibern, Verlegern, Literaten. Nur gedämpft reden sie, um den alkoholgeschwängerten Kopf von gestern zu besänftigen, denn jede Buchmesse ist eine Orgie legaler Drogen. Nur an den ersten Messetagen versucht man noch den Schein der Biederkeit zu wahren: Cognak, Wein, Sekt, Bier stehen schamhaft versteckt im Schrank; man nippt im Verborgenen und meist erst ab 15 Uhr; die Aschenbecher werden noch regelmäßig geputzt. Im Verlauf der Messe jedoch reißen alle Stränge. In der trockenen Hallenluft wird von früh bis spät gebechert, was das Zeug hält. Wirr lachend, das Geschehen illustrierend, liest man dann an den Ständen das kürzlich im Schweizer Haffmanns Verlag erschienene Tagebuch eines Trinkers vor und stößt immer mit dem Kopf nickend auf sehr schöne Tagebucheintragungen: „Es wird behauptet, ich hätte letzte Nacht versucht, im Schlafanzug den Straßenverkehr auf der Kreuzung zu regeln. Mißtrauen, unsicher und verkrampft getrunken.“ oder: „Stimme aus der Steckdose gehört. Werde ich wahnsinnig? Wein, Wein.“ „Danziger Goldwasser bis zum Erbrechen“, „in Jeans Weindepot alle Reste ausgetrunken, nachdenklich“, schließlich „Flasche leer, Schnauze voll“. Ein wirklich schönes Buch! freut sich auch der Herr vom Haffmanns Verlag.

Mythos von der antibürgerlichen Kunst

Die Moritz-Bastei, die Katakomben der „Hochschule für Grafik und Buchkunst“, und die Galerie „Eigen- Art“ sind bevorzugte Orte zahlreicher abendlicher Nebenbeivergnügungen. In den alten Räumen der ruhmreichen Galerie von Judi Lybke präsentieren sich die Schriftsteller der Berliner Galrev-Verlagsbuchhandlung: Gino Hahnemann, ein sympatisch beleibter Schwuler, liest aus seinen Gedichten, in denen immer wieder irgendwann der Vater totgeschlagen wird, und setzt dem großen alten Treffpunkt brünstiger Schwuler aus aller Welt, dem Gellertbad in Budapest, ein würdiges Denkmal; Rainer Schedlinski, ein tagtäglich übernächtigt wirkender aufgeregter Dichter „beginnt fast immer mit einem Gedicht / das die Worte langsam dehnt, damit / sich die Volumen zwischen den Menschen vergrößern“, „steht auf und wäscht sich ohne erinnerung“ und „zieht die erste zigarette inwändig über / wie einen film gegen den tag“.

Bei den Galrev-Autoren hält sich noch der Mythos von Worten, die der antibürgerliche Künstler in die Menge wirft. So lacht man auch herzlich, als gegen die lärmende Vorankündigung von der DDR-Undergroundkultband „Ornament und Verbrechen“ einige deutsche Männer einzuschreiten versuchen. Ein rotgesichtiger Vertreter des Ramschverlags Bastei-Lübbe schnappt wie ein asthmatischer Bluthund immer wieder nach dem dröhnenden Ghettoblaster, der sich mit Sascha Andersen keck im Kreis dreht, erregt sich mit hochrotem Kopf über die „Körperverletzung“, die das kurze Ankündigungskonzert ihm zufügen würde, droht: „Ich werde Sie verklagen“ und kühlt dann doch etwas ab, nachdem er dem Künstler auf die Füße gesprungen ist.

Aber die bier- und weintrinkenden DichterInnen von Galrev sind die kleinen Popstars, die das Eigene oder andere gegen oder auf dem Markt verteidigen. In Westdeutschland, Österreich und der Schweiz verkaufen sie „hervorragend“. Hier allerdings „funktioniert das noch nicht so“, meint Sascha Andersen, der Star der Truppe, der jeden Dichtersamstagabend persönlich am Tresen der Berliner Galrev-Kneipe bedient.

Branchenüblich und völlig betrunken beklatschten die Fachbesucher am Dienstag wie blöde das Ende der Messe. Abfallcontainer sind die letzte traurige und unbeachtete Heimstatt der Zeitungen, Zeitschriften und vieler Bücher, die keinen mitleidigen Leser gefunden haben. Achtlos wird schnell noch ohne Ansehen des Einbandes geklaut; gedemütigt krümmen sich die einstmals so sorgfältig geschriebenen Sätze, und manchem Leser blutet das Herz, wenn er die stolzen Buchstaben so mißhandelt sieht. „Lustig“ reimend zieht der Provinzonkel vom Aufbau- Verlag von dannen: „Schnaps und Bier ist gar nicht billig / Müller- Milch macht Mädchen willig.“