Kein Thema. Tendenz Pause

Vier Berliner Festwochenkonzerte: Mozart, Haydn, Mahler, Meyerbeer  ■ Von Elisabeth Eleonore Bauer

Im Kammermusiksaal herrscht eitel Harmonie. Warmes Holz mischt sich mit goldenem Blech. Die Oboe perlt eilig aufwärts, das Horn ruft, selig schweben Klarinettenklänge im Raum. Es spielt: das Bläserensemble Sabine Meyer.

Es spielt Mozart frei nach Mozart — eine „Entführung“ als Arrangement. Foltern uns sanft mit „Martern aller Arten“, geben als Zugabe drein ein kokettes „Nur ruhig, ich will ja gern gehen“. Von allen schönen Stellen, die die Musik uns zu bieten hat, nur die allerallerschönsten. Von jeder nur denkbaren Klangfarbenkombination just die, in der die harmonischen Rückungen und Verstrickungen am allerberückendsten klingen. Neun Bläser unter sich: das trifft, zumal wenn sie so makellos spielen wie diese hier, direkt in die Magengrube (oder wo immer auch das Gemütszentrum sich befinden mag). Das scheint wie die Inkarnation des schlackenfreien Schönklangs. Man nennt diese Formation eine banda — oder, höchst passend auf deutsch: eine Harmoniemusik.

Mozart, sanfte Martern

Kunst gegen den Krieg — im Musikprogramm der Berliner Festwochen ist das offizielle Festwochenthema offenbar kein Thema. Einmal abgesehen von einer kleinen Reihe Benefizkonzerte, koproduziert von der IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges), wird die Klassikkundschaft in diesem Jahr ausschließlich bedient mit einem Gemischtwarensortiment aus großen Namen und bewährtem Repertoire. Die illustren Gastvirtuosen und Pultstars geben zum Besten, jeder das Seine, was ihnen am besten paßt — wobei es dann passieren kann, daß es nur beim Nächstbesten bleibt. Wie etwa im Falle von Roger Norrington, der dereinst für seinen eigenwilligen Stil historischer Aufführungspraxis berühmt geworden war und sich vor Jahr und Tag in die Herzen der Berliner dirigierte mit einer eher konventionellen Aufführung von Haydns Schöpfung. Diesmal brachte er zur Abwechslung Haydns Jahreszeiten mit, wiederum mit dem Chamber Orchestra of Europe und dem Rias Kammerchor.

Eine todsichere Nummer: Publikum wie Lokalpresse wußten schon im voraus beim ersten Ton der Ouvertüre, daß es wieder einmal ein unvergeßlicher Kunstgenuß werden wird. Die Interpreten, allesamt Spitzenmusiker, wußten ihrerseits das Werk auch ohne Dirigentenhilfe anständig über die Rampe zu bringen. Norrington schließlich zeigte seinem Orchester allerlei Grimassen und clowneske Gesten, einem nicht geringen Teil sogar den ganzen Abend über nichts als den Rücken, gab weder Takt vor noch Tempi, hob keine einzige Stimmführung heraus und nicht einen Akzent — kurz: Norrington machte sich überflüssig — und es kam doch was dabei heraus. Nichts Aufregendes, gewiß, aber immerhin ein harmlos-harmonischer Abend für Musikfreunde. Alle lieben Papa Haydn — Friede seiner Asche.

Mahler, ohne Kompromisse

Seit rund einem Jahrzehnt gehören Mahlers Sinfonien, und zwar fast so fest wie die von Brahms und Beethoven, zum bewährten Repertoire. Gleich auf der zweiten Umschlagseite des Programmhefts fürs Konzert Simon Rattles erinnern die Berliner Festwochen an die eigenen Verdienste um die Mahler-Renaissance: mit dem Abdruck ihres Mahlerplakates aus dem Jahre 1982. Ein schönes Plakat, das nichts mehr von der alten „Wunde Mahler“, sondern nur noch von der neu gewonnenen Popularität des schönen Mahler zu sagen weiß. Man liebt ja auch an Mahlers Sinfonien heute hauptsächlich die schönen Stellen.

Die meisten Dirigenten dirigieren denn auch darauf zu: eilen forschen Schrittes durchs Chaos und mähren sich gemächlich aus auf den unverhofft immer wieder gewonnenen Inseln lyrischen Wohlklangs. Auch Simon Rattle gibt Mahlers Neunte mit extremen Temposchwankungen und einer unerhörten Agogik. Aber es klingt anders als sonst: kaum wiederzuerkennen oder vielmehr bis zur Kenntlichkeit verändert. Die Gewichte sind vertauscht, die Fix- und Schwerpunkte verschoben — jede noch so nebensächliche Füllstimme steht für sich, jeder Einzelton führt sein Eigenleben. Rattle rauht auf, er übertreibt bis über die Schmerzgrenzen hinaus. Er zerlegt den Orchestersatz in Bruchstücke und schmiert nichts wieder zusammen zum faulen Kompromiß. Der dumpfe Herzschlag ganz hinten rechts im Orchester ist stärker als das Schmachten der vielen Violinen links vorne. Man hört und staunt: es gibt gar keine schönen Stellen bei Mahler. Vielleicht ist es eher so, daß man sie erst hören kann, wenn sie schon wieder längst vorbei und Vergangenheit sind.

Wo sie auch tatsächlich hingehören: was schön scheint in den Partituren Mahlers, ist ja nichts anderes als die Denunzierung falscher Traditionen. Die unglaubliche Aufführung, die Rattle da mit seinem City of Birmingham Symphony Orchestra vorgelegt hat, zelebriert statt dessen mit Inbrunst die Kunst der Negation: keine Harmonie mehr, nur Klang — kein Thema, nur noch Töne; und die Töne tendieren zur Pause. Der Schlußton der Neunten, nach dem qualvollen Abschied des Adagissimo, dauert eine Minute länger, als Musik je dauern dürfte. Als das Publikum wieder atmen kann, entlädt es sich in einem nicht enden wollenden Applaus.

Meyerbeer als Veteranenwitz

Eine musikalische Siegesfeier von ganz anderer, eher hausbackener Art fand gleich zu Beginn der Festwochen statt: das Brandenburger Thor- Konzert — eine um 177 Jahre verspätete Uraufführung aus dem Oeuvre des Jubiläumskomponisten Giacomo Meyerbeer. Es handelt sich dabei um ein patriotisches Singspiel, von Meyerbeer 1814 im Auftrage des preußischen Hofes komponiert, und zwar als Rahmenprogramm für die triumphale Heimführung und Wiederaufstellung der Quadriga, die vorübergehend von den napoleonischen Truppen erbeutet und verschleppt worden war. Ein schnelles Gelegenheitswerk mit einem abscheulichen Textbuch und einer Musik, die zu weiten Teilen klingt wie eine flache, flüchtige Skizze — und doch in manchem Detail schon eine Ahnung davon aufkommen läßt, was Meyerbeer Jahrzehnte später in der Grande Opera an Orchesterzaubern zu entfesseln wußte.

Die Festwochen haben davon nur eine B-Produktion finanziert, weshalb sämtliche Siegestrompeten und Trommelwirbel ins enge Korsett des Klavierklangs gezwängt werden mußten — die volkstümelnden Männerchöre dagegen waren bei der Berliner Hymnentafel in besten Kehlen. So daß am Ende beinahe eine antimilitaristische Satire draus geworden wäre (wie sie dem eingefleischten Zivilisten Meyerbeer gewiß gut gefallen hätte) — wäre das Stück nicht mit endlosen Textcollagen aufgemotzt worden zu einem verunglückten musikalischen Volkshochschulkurs. Alle Nase lang unterbrach der Rezitator Gerd Westphal die Musik, um launige Briefstellen und Dokumente zur Biographie des Komponisten vorzulesen. Nichts gegen Westphal, aber alles zu seiner Zeit.

So notwendig es sein mag, Meyerbeer wieder ins Gedächtnis und unter die Leute zu holen — mit dieser biederen Mischkost hat man ihn nur einmal mehr ins Raritätenkabinett verwiesen. Von der Borniertheit der deutschen Musikgeschichte war an diesem Abend nicht die Rede. Im übrigen: wenn Meyerbeer selbst gute Gründe hatte, diese patriotische Jugendsünde schnell wieder in der Schublade verschwinden zu lassen, so sollte man heute einige bessere Gründe mehr haben, sie wieder vorzukramen. Ein halbes Brandenburger Thor, wie gut gemeint auch immer, ist dagegen nur ein schlechter Veteranenwitz.

Kriegsmusik, entwaffnet

Der Krieg im Konzertsaal war also gar nicht so weit ab vom Schuß. Wenn man's recht bedenkt, dann hat ja auch die schöne Harmoniemusik, die von Madame Meyer und Co. so wohlbekömmlich serviert wurde, ihre kriegerische Geschichte hinter sich. Was schon mit dem Namen anfängt: Harmonia, so hieß in der antiken Mythologie die Tochter von Mars und Venus. Die Harmonie ist ein Produkt der Liaison von Krieg und Schönheit — sie wurde zunächst zum Symbol für die Versöhnung von Gegensätzen und später dann zum klassischen Passepartout für alle möglichen Ordnungsmuster, die das Chaos der Welt bannen helfen sollen: die Symmetrie und der goldene Schnitt — jedes abendländische Maß der Vollendung wurde für harmonisch befunden. Erst recht, was die abendländische Musik anbelangt: da ist die Harmonik ja beinahe schon die ganze Miete.

In der Harmoniemusik mischt Mars immer noch heimlich mit. Erstens steht Harmoniemusik in dem einigermaßen unharmonischen Ruf des Trivialen, sie markiert die Grenzüberschreitung von Musik zu Muzak. Harmoniemusik, wie sie zu Mozarts Zeiten in Mode kam, war die gängige Art, ganze Sinfonien und Opern unter die Leute zu bringen: ins Gartenlokal, auf öffentliche Plätze — als Platzkonzert. Zweitens ist Harmoniemusik so etwas wie zivilisierte Kriegsmusik, ein vor allem rhythmisch entschärfter Restbestand der Militärkapelle: Schellen und Trommeln fallen weg wie auch die schrille Animation der Pikkoloflöte. Harmonie ist das, was übrigbleibt.