„Hauptsache,esbleibtruhig“

Abchasischer Mißmut über Georgien ist zur Feindschaft geworden Georgien will raus aus der UdSSR, Abchasien will raus aus Georgien...  ■ Von Klaus-Helge Donath

Batumi (taz) — Der Mann mit der Angel schüttet Wasser aus seinen abgeschnittenen Gummistiefeln. „Hier leben Griechen, Abchasier, Armenier, Russen und Georgier. Alle sprechen Russisch.“ Und welche Nationalität hat er? Er lächelt, unter seinem schwarzen Schnauzbart schimmern Goldzähne. „Ist doch egal. Hauptsache, es bleibt ruhig.“

Die Nachsaison im Seebad Nowyj Afon an der abchasischen Schwarzmeerküste ist sehr ruhig. In den Kooperativkiosken an der Uferpromenade langweilen sich die Verkäuferinnen. Ein angetrunkener Glatzkopf zapft aus einem 200-Liter-Tank Bier für zwei Bekannte. Privatzimmer werden zu fünf bis sieben Rubel (kaum 30 Pfennig) angeboten. An der russischen Schwarzmeerküste kosten sie das Vierfache.

Auch Aleksej, Fotograf im Kurpark, hat viel Zeit. Der Russe ist knapp vierzig, hager, sonnenverbrannt, mit unordentlichen, angegrauten Haaren. Er glaubt, viele Touristen seien wegen der gespannten Lage in Abchasien ausgeblieben.

Aleksej wuchs in Nowyi Afon auf. Nach dem Wehrdienst ließ er sich die Haare lang wachsen, haschte, streifte nachts mit Gleichgesinnten umher. „Wir haben schon in den siebziger Jahren Unabhängigkeitsbewegung gespielt, Plakatwände mit den ,Badeorten Georgiens‘ in die Luft gejagt. Albernheiten.“ Die Albernheiten sind vorbei. Der abchasische Mißmut über die Georgier hat sich in Feindschaft verwandelt.

Abchasien gehört seit 1931 zu Stalins Heimatrepublik. Die „sowjetische Riviera“ liegt auf einer Höhe mit dem Fürstentum Monaco, ist aber mit 8.600 Quadratkilometern viermal so groß. Etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Georgiens, 538.000 Menschen, leben hier. 213.000 Georgier, jeweils an die 100.000 Russen, Armenier und Abchasen, 14.000 Griechen.

Die Georgier wollen raus aus der Sowjetunion, die Abchasen wollen raus aus Georgien. Das wollen auch Russen, Armenier und Griechen. Sie haben Angst vor dem neuen Georgien unter seinem Präsidenten Ewijad Gamsachurdia. Der Exdissident hat Oppositionszeitungen verboten, seine Frau zur Wahlleiterin bei den Präsidentschaftswahlen ernannt. Politische Konkurrenten starben bei Autounfällen.

Im März schlief Aleksej eine Nacht nicht, nachdem er ein Gamsachurdia-Interview für Radio „Swoboda“ gehört hatte: „Der Reporter hat ihn provoziert, und er hat klar gesagt, wie er nach dem Referendum mit den Nichtgeorgiern umspringen wolle. Jetzt kosten in Tbilissi georgische Pässe 5.000 Rubel.“ Armenische, slawische und griechische Landsmannschaften gehören inzwischen dem „Volksforum Aidgylara“ an. Das 1988 gegründete Forum strebt die Selbständigkeit an — als autonome Republik in der erneuerten Union oder in einem Bundesstaat der 14 nordkaukasischen Stämme.

Der Weg dorthin hat bereits Opfer gefordert. Am 28. Mai 1989 pilgerten 30.000 Abchasier zu dem Dörfchen Lychny. Dort unterschrieben sie einen „Unabhängigkeitsbrief“. Schon am 1. April reagierten die Georgier. In 30 Reisebussen durchquerten ihre Nationalisten das Land von Süden nach Norden. An der Grenze zur RSFR stiegen sie zum kollektiven Erdeküssen aus und schworen, Abchasien bleibe georgisch. Auf der Rückfahrt wurde die Buskolonne mit Steinen beworfen.

Die Gemüter kühlten ab, als am 9.April Sowjetsoldaten in Tbilissi 16 Menschen zu Tode prügelten.

Abchasier und Georgier gerieten erst wieder im Sommer aneinander. Im Juli zogen die georgischen Studenten aus der Universität in Suchumi aus. In einer leerstehenden Schule gründeten sie eine Außenstelle Universität von Tbilissi. Erboste Abchasier gingen auf die Straße. Am letzten Tag der Einschreibefrist kam es zu einer Massenschlägerei im nahegelegenen Rustaweli-Park.

Der blutige Streit drohte zum Bürgerkrieg zu werden. Tausende Georgier drängten zur abchasischen Grenze, um den bedrängten Landsleuten zur Hilfe zu eilen. Um sie aufzuhalten, rissen die Abchasier eine Brücke über den Grenzfluß Galidsa ab. Der örtliche Staatsanwalt ließ Waffen an die abchasische Bevölkerung ausgeben, was ihm einen Haftbefehl seines georgischen Vorgesetzten einbrachte. Die Kämpfe dauerten drei Tage, bis am 17. Juni Sowjettruppen eingriffen. Neun Georgier, sechs Abchasier und zwei Rotarmisten kamen um. „Die Georgier zogen ihre Hemden aus, die Abchasier ließen sie an, Dann gingen sie mit Eisenstangen aufeinander los.“ Die abchasische Journalistin Bella Kwartschija erinnert sich mit Schrecken an den Juni 1989. „Seitdem herrscht hier die Ruhe vor dem Sturm.“

Der Zweieinhalb-Meter-Lenin vor dem Obersten Sowjet in Suchumi steht noch, wohl das letzte Denkmal für den Mann mit der Mütze in Georgien. „Wir wollen, daß die Statue auf zivilisierte Art beseitigt wird. Schließlich ist sie aus Edelmetall, das kann man noch verwenden.“ Sergej Schamba, Abchasier und Vorsitzender des „Volksforums“, schwört auf parlamentarische Lösungen. „Wir hoffen auf den Unionsvertrag, wollen ihm als autonome Sowjetrepublik beitreten.“ Doch die Revolution in Moskau hat die Unionsrepubliken gestärkt. Sie werden kaum zulassen, daß ihre „autonomen“ Teilrepubliken sich per Vertragsunterzeichnung zu ebenfalls souveränen Unionsstaaten aufschwingen. Die Zukunft ist ungewiß.

Awtandal Dawitaja mag Historien. Er schildert mir breit, wie Georgiens Zar Dawid IV. im 11.Jahrhundert mit 67.000 Kriegern eine halbe Million Muselmanen vernichtend schlug, die das christliche Abendland erobern wollten. Dawitaja ist 25, Führer von Gamsachurdias Hausmacht, der „Helsinki- Gruppe“, und Abgeordneter des georgischen Parlaments. Der Wirtschaftsmathematiker verehrt Gamsachurdia: „Wer so tief gläubig ist wie der Präsident, kann von Natur aus kein Diktator sein.“

Das Volksforum sei eine KP-Filiale. „Es wird Zeit, daß die Abchasier Lenin endlich runterschmeißen. Statt dessen haben sie den Putsch in Moskau unterstützt. Ihr Oberstaatsanwalt Kwizinijas hat schon den Ausnahmezustand erklärt.“ (Kwizinijas ist Abchasier, aber von Tbilissi ernannt. Das Volksforum organisierte schon Hungerstreiks, um ihn zum Rücktritt zu zwingen.)

Der Kreml habe die Abchasier aufgehetzt, um die georgische Unabhängigkeit zu verhindern. „Wer gegen die Unabhängigkeit ist, der ist unser Feind. Unabhängigkeit bedeutet für uns Freiheit. Und die Freiheit kennt keinen Rückwärtsgang.“

„Gamsachurdia fuhr beim Putsch auch im Rückwärtsgang“, sagt der Fotograf Aleksej. Gamsachurdia hatte angesichts des kommunistischen Umsturzversuchs in Moskau zu Ruhe und Ordnung aufgerufen, angeordnet, die Nationalgarde aufzulösen. Für Ruhe und Ordnung schaltet auch sein Gefolgsmann Dawitija einen Gang zurück: „Wir wollen kein Blutvergießen. Wir brauchen hier Stabilisierung.“ Darum habe man sich auch mit dem Wahlgesetz vom 27. August abgefunden. Die 132 Abgeordneten des 1986 gewählten Parlaments, alle Mitglieder der aufgelösten KP, hatten es rechtzeitig zu den Neuwahlen am 29. September beschlossen. Danach dürfen in 28 Wahlbezirken nur Abchasen (17% der Einwohner) kandidieren, in 26 Georgier (46%), in 11 Vertreter der anderen Völker (37%). Dawitija bleibt gefaßt: „Es wurde auch beschlossen, daß Verfassungsänderungen nur mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden können. Also nicht gegen uns.“ Das gilt auch für Volksabstimmungen über Verfassungsänderungen.

Und sein Widersacher Schamba zeigt wenig Freude über den gesetzlich garantierten Wahlsieg: „Ein Zweikammerparlament mit einem Nationalitätenrat wäre uns lieber.“ Auch die Abchasierin Bella klagt: „In einem normalen Land ist so ein Wahlsystem unmöglich. Hier sind wir schon froh, wenn es bei den Wahlen keine Toten gibt.“ Abesalom Mikeladse, Führer der oppositionellen georgischen „Gesellschaft Iljas Tschawtschanidse“ in Suchumi, schimpft über die „Apartheidswahlen“. Er fordert: „one man — one vote“. Mikiladse, 27, will ein demokratisches Georgien — Abchasien inklusive: „Antike Quellen beweisen, daß hier immer Georgier lebten. Die Abchasier sind bis ins 17. Jahrhundert urkundlich nicht erwähnt.“