Moldova wird mit Rumänien vereinigt

■ „Moldova für Anfänger“, Teil II: Ende der russischen Epoche in der ehemaligen Sowjetrepublik Moldawa läßt russisches Geschichtsbild entschwinden/ Die jüngere Geschichte ist ungeeignet für eine historische rumänische Identifikation/ Es wird auf die Geschichte des späten Mittelalters zurückgegriffen: Lenin ist unwichtig und Stefan der Große der Held

Erstaunlich war der Zeitpunkt der moldauischen Unabhängigkeitserklärung — der 27. August 1991. Noch wenige Tage zuvor war offiziös der 9. September im Gespräch gewesen. Einige Beobachter tippten darauf, daß während der Feierlichkeiten „Limba Noastra“ (Unsere Sprache) am 31. August und 1. September eine Volksstimmung entstehen könnte, die gleichsam von unten her eine Unabhängigkeitserklärung erzwingen würde. Schließlich wurde der zweite Jahrestag jenes Gesetzes gefeiert, kraft dessen die „moldawische“ Sprache wieder mit lateinischen Lettern geschrieben und alleinige offizielle Staatssprache wurde. Damit war die rumänische Identität des Landes offiziell wieder hergestellt worden. [Anm. der Redaktion: Erhard Stölting quält uns absichtlich. Das in der taz bisher als Moldawien bezeichnete Gebiet heißt auf rumänisch Moldova und auf russisch Moldowa. Und, da Rumänien ursprünglich aus den beiden Fürstentümern Walachei und Moldau bestand, von dem später ein Teil, nämlich Moldowa, zu Rußland fiel, wissen wir nun: Moldova ist nur ein Stück von Moldau.]

Der Anschluß der ehemaligen Sowjetrepublik an Rumänien ist nun nur noch eine Frage von Monaten. Die Eile, mit der die Unabhängigkeitserklärung vorgezogen wurde, erklärt sich aus dem Bedürfnis, nach dem Putsch vollendete Tatsachen zu schaffen und sich nicht von den baltischen Staaten den Schneid abkaufen zu lassen. Immerhin hatte Moldova auch beim Verbot der kommunistischen Partei die Nase um einige Stunden vorn.

Von Kischinjow zu Chisinau

Die Rumänisierung Moldovas hat in den letzten beiden Jahren große Fortschritte gemacht. Es ist der Hauptstadt Kischinjow kaum noch anzusehen, daß es noch vor zwei Jahren einen weitgehend russischen Eindruck machte. Die russische Sprache ist zwar aus der Öffentlichkeit noch nicht gänzlich verschwunden, aber eine Entschuldigung für mangelnde rumänische Sprachkenntnisse sollte parat haben, wer heute Polizisten in Chisinau, dem ehemaligen Kischinjow, auf Russisch um eine Auskunft angeht. Man könne ja auch in Paris nicht einfach auf Deutsch herumfragen, lautet dafür die plausible Erklärung eines Vertreters der Nationalbewegung.

Die nationalen Grenzen werden immer deutlicher gezogen. Dem letzten sowjetischen Zensus von 1989 entsprechend bezeichneten von den 4.330.000 Einwohnern Moldovas 2.685.889 (62 Prozent) Rumänisch als ihre Muttersprache, 992.000 (23 Prozent) Russisch, 370.000 (9 Prozent) Ukrainisch, 134.000 (3 Prozent) Gagausisch. In der Hauptstadt Chisinau lagen die Verhältnisse etwas anders: von deren 715.000 Einwohnern bezeichneten 329.231 (46 Prozent) Rumänisch, 304.170 (43 Prozent) Russich, 40.000 (6 Prozent) Ukrainisch und 3.663 (1 Prozent) Gagausisch als ihre Muttersprache. Inzwischen dürfte sich das Gewicht zugunsten des Rumänischen verschoben haben.

Probleme bei der Sprachumstellung

Allerdings gibt es Übergangsschwierigkeiten bei der Sprachumstellung. Der junge Abgeordnete Vasile Anastase von der Zeitung 'Glasul Natiunii‘ etwa weist darauf hin, daß noch Lehrer und Unterrichtsmaterialien fehlen. Einige Unternehmen verwendeten im internen Verkehr noch immer ausschließlich die russische Sprache. Für die mittleren Jahrgänge der rumänischsprachigen Bevölkerung, die in sowjetischer Zeit kyrillisch alphabetisiert worden seien, stelle die lateinische Schrift eine Hürde dar. Daher sei der Verkauf rumänischsprachiger Zeitungen nach der Umstellung der Schrift zunächst zugunsten russischsprachiger Zeitungen zurückgegangen.

Auch an anderen Stellen ist der russiche Einfluß noch spürbar. Die jungen Mütter mit Säuglingen, die alten Bäuerinnen und die gehetzten Städterinnen vor dem Raum 117 im Regierungsgebäude, die seit 9 Uhr auf den Zuständigen warten und ihn gegen halb elf erstmals zu Gesicht bekommen, beschweren sich rumänisch und russisch. Dabei betonen die Moldovaninnen immer wieder, daß ihnen die behördliche Menschenverachtung ebenso gilt wie den Russen oder Juden.

Rußland wird unsichtbar

Der sowjetische Einfluß ist also noch da, aber er geht zurück. Mit ihm entschwindet auch das russische Geschichtsbild, dessen öffentliche Gültigkeit bis 1989 polizeilich abgesichert worden war. Dieser Geschichtsversion zufolge wurde Bessarabien, der östliche Teil des bis dahin ganz unter osmanischer Oberhoheit stehenden Fürstentums Moldau, 1812 durch Rußland vom türkischen Joch befreit und für immer mit Rußland vereint. Seit jener Zeit habe die moldawische Kultur dank russischer Förderung und russichem Einfluß einen stürmischen Aufschwung erfahren. Russische Ethnologen erforschten die Sitten und Gebräuche der moldawischen Bauern und sammelten Volkslieder. Seine extreme Ausprägung fand das russische Geschichtsbild unter Stalin. Philologen wiesen nun nach, daß das „Moldawische“ zwar weitläufig mit dem Rumänischen verwandt, aber doch eine ganz eigene Sprache sei. Für sie wurde die kyrillische Schrift vorgeschrieben. Alle regionalen Kontakte nach Rumänien wurden strikt unterbunden.

Wie fast alle historischen Schemata der Stalin-Zeit war auch dieses grostesk. Allerdings versteckte sich in ihm eine weiterreichende Identitätsproblematik. Rußland war die Kolonialmacht Bessarabiens und sorgte dafür, daß das Land kulturell und politisch von den rumänischen Entwicklungen abgeschnitten blieb. Andererseits veränderte sich die ethnische Zusammensetzung durch eine staatlich geförderte Zuwanderung, vor allem von Russen, Ukrainern, Juden, Gagausen, Bulgaren und Deutschen. Chisinau selbst war zum Zeitpunkt der Annexion ein unbedeutender Marktflecken gewesen. Als „Kischinjow“ wurde es eine bedeutende und großzügig ausgebaute Provinzstadt, mit der sich viele russische Erinnerungen verbinden.

Puschkin bleibt unangetastet

Diese Erinnerungen lassen sich in der Gestalt des großen russischen Dichters Puschkin bündeln, der hier drei Jahre lang in der Verbannung lebte. Angesichts dessen, daß die russische Puschkin-Forschung jede Minute im Leben des Dichters minutiös dokumentiert hat, bedeutet das viel. Zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt gehörte bislang eine sympathische Puschkin-Statue inmitten des zentral gelegenen Puschkin-Parks.

Das nun wieder rumänisierte Geschichtsbild muß diese russische Zeit als eine der Unterdrückung und Entfremdung kennzeichnen. Die moldauisch-rumänische Identität habe sich ihm zufolge trotz des russischen Jochs rein und unverfälscht erhalten. Anders als in Bukarest wird die Frage nach moldauischen Besonderheiten innerhalb der rumänischen Kultur in Chisinau meist abgewehrt; es gibt keine Besonderheiten.

Für eine historische rumänische Identifikation ist das 20. Jahrhundert ungeeignet. In der Zwischenkriegszeit war Bessarabien rumänische Provinz ohne weitere Bedeutung. Eine Orientierung an der blutigen Zeit Antonescus nach 1941 und an dem in Bessarabien und Transnistrien östlich des Dnjestr verübten rumänischen Anteils am Holocaust könnte international Befremden auslösen. Sie steht weniger im Vordergrund als in Rumänien selbst. Außerdem leben in Moldova offiziellen Angaben zufolge heute noch 66.000 Juden, davon über die Hälfte in Chisinau. Unter ihnen sind auch die Erinnerungen an die Pogrome von 1903 und 1905 noch nicht erloschen.

So müssen ältere Zeiten gesucht werden, an denen sich die nationale Selbstidentifikation festmachen kann. Am wichtigsten sind dafür die spätmittelalterlichen moldauischen Fürsten geworden.

Rückgriff auf mittelalterliche Fürsten

Vor dem Denkmal des inzwischen heilig gesprochenen Stefans des Großen (Stefan del Mare, 1457-1504) liegen immer frische Blumen. Die zentrale Achse der Stadt ist jetzt nach ihm und nicht mehr nach Lenin benannt. Zum Tag der Sprache am 31. August 1991 wurde der Historienfilm Stefan cel Mare uraufgeführt. In geringerem Maße können auch moldauische Fürsten wie Alexander der Gute (Alexandru cel Bun) und Vasile Lupu zur Beschwörung nationaler Großzeiten dienen. Identitätsstiftend ist schließlich die Folklore. Die moldauische Volksmusik hat in der Tat nichts Ukrainisches oder Russisches an sich. Daß hier die östliche Grenze des Balkans liegt, läßt sich hören.

Der historische Umbruch begann nicht erst mit dem Putsch, aber er vollzieht sich beschleunigt. Kommunistische oder russische Straßenschilder wurden abmontiert oder überschrieben. Nicht einmal die Taxifahrer kennen schon die neuen Namen, zumal einige doppelt vergeben wurden. Es gibt weder Stadtpläne noch Stadtführer noch Geschichtsbücher. Die alten sind weggestellt, die neuen werden erst erarbeitet. Das Dorf Puschkino heißt wieder Dolna, wie damals, als Puschkin dort wohnte. Die russische Zeit Moldawiens geht zu Ende. Die Biographie Boris Trubezkojs Puschkin in Moldawien ist kaum noch erhältlich. Von der beachtlichen, erst 1990 erschienenen Monographie Irina Tabaks über die russische Bevölkerung Moldawiens wurde am 25. August 1991 das letzte Exemplar verkauft. Wie überall in Osteuropa erscheint die Entkolonialisierung auch als Geschichtsverlust und umgekehrt. Die Steine bedeuten nichts mehr. Von Erhard Stölting

Erhard Stölting reiste für die taz nach Moldova. Teil I seines „Moldova für Anfänger“ erschien am 13.9.1991.