„Sehr hohe Geschwindigkeit“

In Frankreich sind hunderttausend abgewiesene Asylbewerber von Ausweisung bedroht/ Die Asylpolitik wird im Rahmen europäischer Angleichung zunehmend restriktiver  ■ VON THIERRY CHERVEL

Madame Groshens vom Pariser Sozialministerium spricht eine etwas gummihafte Sprache. „Wie wollen Sie denn 90.000 Leute auf einmal ausweisen?“ lautete die Frage. „Das scheint schwierig“, gibt sie zu. Aber es sei noch zu früh, um darüber zu reden.

Wenn die französische Regierung ihren Erlaß vom 23. Juli ernst nimmt, dann könnte den Franzosen Anfang nächsten Jahres tatsächlich das Spektakel einer Massenabschiebung blühen — pünktlich zu den nächsten Regionalwahlen im März, bei denen sich Le Pen gute Chancen ausrechnet. In diesem Erlaß fordern das Sozial- und das Innenministerium hunderttausend abgewiesene Asylbewerber auf, ihren Fall bei den französischen Behörden ein zweites Mal prüfen zu lassen. Unter gewissen Umständen dürften sie bleiben. Einsendeschluß für die Anträge ist der 30. November. Es ist abzusehen, daß die meisten auch diesmal abgelehnt werden.

Die sehr hohe Zahl von hunderttausend abgewiesenen, aber noch nicht abgeschobenen Asylbewerbern erkläre sich „durch jahrelange Anhäufung“, so Groshens — sie ist ein Geschenk des abgesetzten Premierministers Rocard an seine Nachfolgerin Cresson, eine Konsequenz schleppend bürokratischer Asylpraxis in den achtziger Jahren. Damals spielte die Asylsuche kaum eine Rolle in der französischen Ausländerpolitik. Nur zwischen 21.000 und 27.000 Asylanträge pro Jahr wurden von 1981 bis 1987 gestellt. Bearbeitungszeit pro Antrag: zwei bis fünf Jahre.

Die Wende kam kurz nach den Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Revolution, für deren Inszenierung der Werbemann Jean-Paul Goude gerade in die Ehrenlegion aufgenommen wurde — er sei ein „Schöpfer von Bildern und Schönheit“, so Mitterrand in der Laudatio, und habe sich um Frankreich verdient gemacht. Als Höhepunkt des Spektakels hatte damals eine schwarze — und ausländische! — Sängerin, deren imposanter Leib in eine acht Meter lange rot-weiß-blaue Schleppe gesteckt war, die Marseillaise intoniert.

Computer erhöhen die Effektivität der Behörde

Die Zahl der Asylbewerber war inzwischen sprunghaft gestiegen. 34.000 waren es 1988 und 1989 gar 61.000 Verfolgte, die die französische Menschenrechtserklärung wörtlich nahmen. „Wir können nicht alles Elend der Welt zu uns holen“, erklärte der damalige Premierminister Rocard. Die Bearbeitunszeit für einen Antrag soll auf drei Monate abgesenkt werden, dekretierte Mitterrand. Das Personal der französischen Asylbehörde, des „OFPRA“ (Amt zum Schutz der Flüchtlinge und Heimatlosen), wurde Anfang letzten Jahres um die Hälfte aufgestockt und mit Computern ausgestattet. Seitdem arbeitet die Behörde, so der interne Jargon, in „sehr großer Geschwindigkeit“ — TGV: Sie benötigt drei Monate Bearbeitungszeit pro Antrag. Außerdem wurde der Aktenberg aus den vorangegangen Jahren abgearbeitet. Knapp 90 Prozent der Anträge werden abschlägig beschieden, nicht einmal ein Fünftel der Asylbewerber wird zu einem persönlichen Gespräch geladen, in der Berufungskommission, die noch einmal eine Bearbeitungszeit von drei bis fünf Monaten benötigt, werden die Entscheidungen des OFPRA kaum je revidiert.

Die Folge: Hunderttausend abgewiesene Asylbewerber — sogenannte „Déboutés“ — stehen seit letztem Jahr vor der Perspektive der Ausweisung. Anders als Asylbewerber in Deutschland genossen sie während ihrer Wartezeit eine vorläufige Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung — ein Recht, das den heutigen Asylbewerbern in Frankreich übrigens vor zwei Wochen im Zuge der „Harmonisierung“ der europäischen Asylpolitik gestrichen wurde.

Manche der Déboutés sind schon seit über zwei Jahren in Frankreich, manche haben hier längst Familie. Nun bereichern sie das Heer der Schwarzarbeiter, und die französische Ausländerpolitik hat ein Problem mehr: Die Déboutés wollen nicht weg. — „Mit dem Golfkrieg entstand eine regelrechte politische Bewegung der Déboutés“, erzählt Jean-Pierre Alaux, Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation „GISTI“, die abgewiesene Asylbewerber betreut, und Autor der Zeitschrift 'Le Monde diplomatique‘. „Bernard Kouchner, Staatssekretär für Menschenrechtsfragen (so etwas gibt es in Frankreich!), hatte die Kurden entdeckt, die von den Irakern und Türken im Anschluß an den Golfkrieg malträtiert wurden und ließ in einer humanitären Geste Hilfsgüter abwerfen. Währenddessen harrten etwa 15.000 abgewiesene kurdische Asylbewerber in Frankreich ihrer möglichen Abschiebung in das umkämpfte Gebiet — die Kurden stellen die größte Gruppe unter den Déboutés. Im April besetzten mehrere hundert kurdische Déboutés Kirchen in verschiedenen Städten und traten in den Hungerstreik gegen die ,Heuchelei der französischen Politik‘. Afrikanische und ostasiatische Déboutés schlossen sich ihnen bald an.“ Das Thema gelangte in die Medien, als der in Frankreich hochverehrte Abbé Pierre — über den schon Barthes in seinen Mythen des Alltags schrieb — eine Gruppe von Déboutés in der Pariser Kirche Saint-Joseph im 11. Arrondissement besuchte und vier Tage lang mitfastete.

Ende Mai wurde der Hungerstreik abgebrochen. Mitterrand hatte sein Kabinett umgebildet. Jean-Louis Bianco war zum neuen Sozialminister ernannt worden und „garantierte“ mündlich, daß die Déboutés nicht zu Opfern einer in vergangenen Jahren verfehlten Asylpolitik gemacht werden sollten. Vor einer Abschiebung solle ihr Fall noch einmal überprüft werden.

Am 23. Juli ließen Sozial- und Innenministerium ein Rundschreiben an die Präfekturen ergehen, das die Déboutés aufforderte, ein zweites Mal vorstellig zu werden. Unter gewissen Umständen könnten sie ein dauerhaftes Bleiberecht erwirken.

„Ein erbärmliches Papier“, sagt Jean-Pierre Alaux. „Das Netz der Bedingungen ist so eng geknüpft, daß kaum ein Débouté durchschlüpfen wird.“ Um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, müssen die Antragsteller nachweisen, daß sie vor dem 1. Januar 1989 französischen Boden betreten haben, daß ihr erster Antrag mindestens zwei Jahre lang liegen geblieben ist und daß sie während dieser Zeit mindestens ein Jahr lang gearbeitet haben. Außerdem müssen sie für den Fall eines positiven Bescheids einen gültigen Arbeitsvertrag vorweisen. Höchstens fünf bis zehn Prozent der Déboutés, wahrscheinlich weniger, so Alaux, erfüllen alle diese Kriterien zugleich.

Das Versprechen, ihre Fälle noch einmal überprüfen zu lassen, das die Déboutés Jean-Louis Bianco durch ihren Hungerstreik abnötigten, hat sich als Falle erwiesen. Es bleibt ihnen jetzt kaum etwas anderes übrig, als eine Aufenthaltsgenehmigung gemäß Erlaß zu beantragen, auch wenn ihre Chance gering ist. So bekommen sie zumindest noch einen Aufschub. Vielleicht wird der eine oder andere wegen Fast-Erfüllung des Kriterienkatalogs oder Krankheit noch als Härtefall eingestuft. Die Alternative wäre die sofort mögliche Abschiebung, und davor haben manche von ihnen begreifliche Angst. Alaux kann mit einer Hand ein halbes Dutzend Dossiers aus seinem überladenen Schreibtisch hervorziehen, die zweifelhafte Entscheidungen des OFPRA belegen: der Fall eines gambischen Bauern, der bei einer Demonstration festgenommen und in der Haft brutal zugerichtet wurde — laut OFPRA ein Wirtschaftsflüchtling; der Fall eines Haitianers, der den Mitgliedsausweis einer befreiungstheologischen Vereinigung und den Todesschein seines erschossenen Bruders vorweisen konnte — er wurde mit der Unterstellung abgewiesen, daß die Dokumente gefälscht sein könnten; der Fall eines Kurden, der von türkischen Militärs gefoltert wurde, damit er ihnen Auskünfte über Freunde gibt — er wurde abgelehnt, weil er keiner politischen Vereinigung angehört. — Vom Problem der Déboutés profitieren vorerst kurioserweise die französischen Autofahrer: Schon seit längerem plant die Regierung einen „Führerschein nach Punkten“, die bei Verkehrsverstößen bis zum völligen Entzug des Dokuments abgezogen werden können. Daraus wird jetzt erst mal nichts. Am 23. August gab Innenminister Philippe Marchand bekannt, daß die Herausgabe des Führerscheins, die für den 1. Januar 1992 geplant war, „um einige Monate“ verschoben wird. Das Innenministerium brauche im Moment seine ganze Computerkapazität, um „Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung“ zu erfassen.

Massenabschiebung technisch unmöglich

Noch in anderer Hinsicht hat sich also Biancos Versprechen und der daraus folgende Erlaß als Falle erwiesen: Die Déboutés liefern durch ihre Anträge Daten, frische Adressen. Dadurch hat die Administration eine viel bessere Handhabe für etwaige Maßnahmen als bisher.

Wird es zu Massenausweisungen kommen? Sie wären jedenfalls die logische Konsequenz aus der französischen Regierungspolitik. Konkret wird sich die Frage im Februar stellen, wenn alle Anträge beantwortet sind. Aus den zuständigen Ministerien ist bisher keine Auskunft über die Planungen zu bekommen.

Eine Ausweisung von 90.000 Personen halten allerdings nicht einmal die größten Pessimisten in den Hilfsorganisationen für möglich, die sich zum Schutz der Asylbewerber zu einem Netzwerk zusammengeschlossen haben (Réseau d'information et de solidarité). Sie wäre technisch nicht zu bewerkstelligen — es sei denn, die französische Regierung griffe zu in Frankreich seit langem nicht gesehenen polizeistaatlichen Methoden. Auch politisch ließe sie sich wohl nicht durchsetzen, selbst nicht im heutigen Frankreich, das weit nach rechts gerückt ist und mehrheitlich Giscards Äußerungen über die „Invasion der Ausländer“ und das Blutsrecht als konstruktiven Diskussionsbeitrag begrüßt (wie das 'Figaro-Magazine‘ ermitteln ließ).

„Zehntausend Abschiebungen reichen ja schon“, sagt Laurent Giovannoni von der protetantischen Menschenrechtsgruppe „CIMADE“, „ein paar spektakuläre Medienaktionen im Vorfeld der Regionalwahlen im März und der Parlamentswahlen im übernächsten Jahr. Für 90.000 Ausweisungen hätte die Regierung gar kein Geld, Ausweisungen sind nämlich teuer. Die meisten Déboutés werden einfach in die Illegalität abrutschen, die allerdings immer unsicherer ist, weil die Kontrollen ständig verschärft werden.“ Vor allem konstatieren die Menschenrechtsgruppen eine „vollständige Demontage rechtsstaatlicher Prinzipien“, so Jean-Pierre Alaux. „Nehmen Sie zum Beispiel Sozialminister Bianco, der sein Versprechen im Mai, das zum Erlaß führte, nur mündlich geben wollte — ,mit Rücksicht auf die extreme Rechte‘, wie er sagte. So steht es um die Demokratie in Frankreich.“

Auf den Flughäfen macht die Regierung unterdessen klar, daß es nicht noch einmal zu einem „Problem der Déboutés“ kommen soll. Die vom Innenministerium abgesteckten „internationalen Zonen“ werden immer größer. Im Hotel Arcade beim Flughafen Charles de Gaulle — einem grauen Kasten von geringem Standard — genießen die Bewohner der ersten Etage einen Sonderkomfort: Ihre Fenster sind vergittert. Die Etage wurde kürzlich zur internationalen Zone erklärt. Dort bringt die „PAF“, die französische Grenzpolizei, Asylbewerber unter, die sie nun gar nicht mehr auf „französischen“ Boden vorläßt. Das OFPRA wird von der PAF telefonisch, bestenfalls postalisch konsultiert. Innerhalb von ein paar Tagen kommt die fast durchweg negative Antwort, und die Asylbewerber werden ins nächste Flugzeug gesetzt, das Richtung Heimat fliegt.

Dabei sind die Gäste der internationalen Zone noch privilegiert. Viele Asylbewerber werden von der PAF direkt zurückgeschickt, ohne Rückfrage beim OFPRA — wie viele genau, läßt sich nicht sagen, denn diese Asylbewerber geraten nicht einmal mehr in die Statistik. Journalisten und Angehörige von Menschenrechtsorganisationen haben keinen Zutritt zu den internationalen Zonen.

Auffanglager am Flughafen

„Die Situation ist zum Verzweifeln“, sagt Jean-Pierre Alaux, „die einfache Forderung nach eingehender Prüfung jedes Einzelfalls wirkt heute schon fehl am Platz, rechtsstaatliche Prinzipien werden fallengelassen.“ Das französische Asylrecht, so resümiert Giovannoni, bestehe heute nur noch den Buchstaben nach. „In einem Punkt wird die französische Regierung ihre Politk mit der deutschen ,harmonisieren‘: nicht in der Einzelfallprüfung, die in Deutschland gründlicher ist, aber in der Einrichtung von Wartelagern.“

Aber wie gesagt: Daß Asylbewerber auf französischen Boden gelangen, möchte die Regierung möglichst verhindern. Demnächst eröffnet darum das Außenministerium Büros in den internationalen Zonen der Flughäfen, in denen Experten des OFPRA die Beamten der PAF „berät“. Die PAF behält die Entscheidungsvollmacht. Vorgesehene Bearbeitungszeit pro Asylantrag: 24 Stunden.