Ukraine gründet Armee

■ Kiew beschließt eine nationale Armee mit 400.000 Mann/ Atomwaffen sollen unter doppelte Kontrolle der Ukraine und der UdSSR gestellt werden

Kiew (afp/taz) — Die Warnung aus Moskau stieß in Kiew auf taube Ohren. Nur einen Tag nachdem Michail Gorbatschow vor dem Obersten Sowjet vor der Bildung nationaler Streitkräfte gewarnt hatte, beschloß das Parlament der Ukraine die Aufstellung einer mehr als 400.000 Mann starken Armee. Neben der Bildung von eigenen Land- und Luftstreitkräften will die Republik auch einen Teil der Ausrüstung der sowjetischen Schwarzmeerflotte übernehmen. Mehrere Regimenter der in der Ukraine stationierten ein- bis eineinhalb Millionen Rotarmisten haben bereits erklärt, daß sie sich der Regierung in Kiew unterstellen wollen. Auch wenn die Ukraine sich mit diesem Beschluß eine Streitmacht in der Stärke Frankreichs schafft — die Entscheidung über die Bildung der eigenen Armee kam nicht überraschend. Bereits zu Beginn des Jahres — und damit vor dem gescheiterten Moskauer Putsch — war hierüber diskutiert worden. Mit den nun ebenfalls verabschiedeten Gesetzen über die Einführung einer eigenen Währung sowie einer 30.000 Mann starken nationalen Polizei vollzieht die Republik weitere Schritte auf dem Weg in die Unabhängigkeit. Neu ist hingegen die Stellungnahme zum Umgang mit den Atomwaffen. Während bereits kurz nach dem Putsch Parlamentspräsident Krawtschuk angekündigt hatte, daß die Ukraine zur atomwaffenfreien Zone werden wolle, schreibt das nun verabschiedete Gesetz die Kontrolle während der bevorstehenden „längeren“ Übergangszeit fest: Die in der Ukraine stationierten 4.000 bis 5.000 Atomsprengköpfe sollten unter die „doppelte Aufsicht“ der Sowjetunion und der Ukraine gestellt werden. In der sowjetischen Armee zeichnet sich unterdessen durchaus die Bereitschaft zur Akzeptanz einer mehrseitigen Kontrolle der Atomwaffen ab. Stabschef Lobow forderte zwar die Konzentration sämtlicher Atomwaffen in der „wirtschaftlich stärksten und strategisch mächtigsten“ Republik Rußland. Gleichzeitig stellte er aber auch fest, daß dies nicht bedeute, daß die übrigen Republiken kein Kontrollrecht über das nukleare Potential haben sollten.

Zweifel haben die Vertreter der Roten Armee an den Finanzierungsmöglichkeiten eines eigenen ukrainischen Militärs. Ihren Schätzungen nach sind hierfür jährlich 50 Milliarden Rubel nötig. In Kiew wird damit gerechnet, daß für die Armee jährlich 2,8 Prozent des Haushaltes zur Verfügung gestellt werden müssen; der Umfang des Haushalts wird jedoch nicht konkretisiert.

Präsident Gorbatschow dürfte sich durch die jüngsten Gesetze des ukrainischen Parlaments um eine weitere Hoffnung gebracht sehen. Noch wenige Stunden vor der Parlamentssitzung hatte er gemeinsam mit den Mitgliedern der in der letzten Woche unterzeichneten Wirtschaftsunion an die „abtrünnige“ Sowjetrepublik appelliert, die Union nicht zu verlassen. Ohne die Ukraine — so gesteht auch der Präsident ein — könne er sich eine neue „Sowjetunion“ — bestehend aus Rußland, Weißrußland und den asiatischen Republiken — nicht vorstellen. Mit 52 Millionen Einwohnern und einem Viertel des sowjetischen Wirtschaftspotentials ist die Ukraine die stärkste der vier Republiken, die den Wirtschaftsvertrag nicht unterzeichnet haben.

Über das Für und Wider dieses Vertrages gibt es jedoch auch in Kiew unterschiedliche Positionen. Während Ministerpräsident Fokin noch am Montag erklärt hatte, daß die Republik den Wirtschaftsvertrag doch noch unterzeichnen werde, ist nicht nur der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Auswärtige Angelegenheiten davon überzeugt, daß der Vertrag „nicht funktionieren kann“. Hintergrund der unterschiedlichen Einschätzungen ist nicht zuletzt der Wahlkampf. Am 1. Dezember werden die Einwohner der 52 Millionen zählenden Republik in einem Referendum nicht nur ihre Zustimmung zur vollständigen Unabhängigkeit der Ukraine geben, sondern zugleich wird auch das Staatsoberhaupt gewählt.

Nationalistische Töne haben auch in der Ukraine Hochkonjunktur. Ein Grund dafür, warum die Wahlstrategen Fokins versichern, daß der Ministerpräsident sich tatsächlich nie für den Beitritt zur Wirtschaftsunion ausgesprochen habe. Und auch der bisherige starke Mann der Ukraine, Parlamentspräsident Leonid Krawtschuk, kommt durch die zunehmende Konkurrenz anderer nationalistischer Kräfte immer mehr in Bedrängnis, die ihm vorwerfen, eine „alte Kraft“ zu sein. her