Die Kaukasusvölker haben schon immer für ihre Freiheit gekämpft

Bereits kurz nach Stalins Tod kehrten sie gegen Moskaus Willen aus ihren Deportationsorten, wohin Stalin sie verbannt hatte, zurück  ■ Von Erhard Stölting

Ganz überraschend kamen die Ereignisse in Tschescheno-Inguschetien nicht. Wenn alles in der ehemaligen Sowjetunion auseinanderstrebt, müßte ein Wunder geschehen, wenn sich die kaukasischen Völker nicht besonders freiheitsdurstig zeigten. Tschetscheno-Inguschetien hatte wie andere Autonome Republiken im Kaukasus schon im November 1990 die „Autonomie“ erklärt. Die Bewegung „Nationalkongreß“ forderte schon damals die Unabhängigkeit. Bis vor kurzem hatte jedoch kaum jemand dieses Unabhängigkeitsstreben ernst genommen. Zu zahlreich und zu klein schienen die nordkaukasischen Völker. Man übersah dabei, daß diese Völker aber auch sehr kriegerisch und freiheitsdurstig sind. Ohne Tschetschenen wäre die „sowjetische Mafia“ zwischen Odessa, Moskau und Berlin nur eine halbe Sache.

Bis 1858 hatten die kaukasischen Völker unter Führung des legendären Schamil und der grünen Fahne des Islam der russischen Macht standgehalten. Auch die Bolschewiki ergaben sie sich nach dem Bürgerkrieg keineswegs freiwillig. Während des Zweiten Weltkrieges erlagen viele Inguschen und Tschetschenen dem Liebeswerben der deutschen Besatzungsmacht — nicht aus Liebe zu den Nazis, sondern weil ihnen die von Rußland und dem Kommunismus versprochene Freiheit vorenthalten wurde. Dafür wurden beide Völker kollektiv bestraft. Nach der sowjetischen Rückeroberung des Kaukasus wurden sie mit der Deportation nach Mittelasien und Sibirien bestraft. Ihre Rückkehr nach Stalins Tod geschah auf kaukasische Weise. Sie warteten nicht auf irgendeine Erlaubnis, veranstalteten weder Demonstrationen noch Hungerstreiks, sondern gingen einfach zurück. Die inzwischen angesiedelten Neusiedler verschwanden wieder, wo sie störten — entweder freiwillig oder auf einer Totenbahre. 1957 wurde die Autonome Republik in verkleinerter Form wiederhergestellt. Der Teil, der an Nordossetien geschlagen wurde, gehörte ursprünglich zum inguschischen Gebiet; viele Inguschen beabsichtigen, ihn zurückzuholen, wenn erst einmal die Unabhängigkeit von den Tschetschenen erreicht ist.

Diesem Freiheitswillen haftet eine kaukasische Besonderheit an, die mit der Geographie zusammenhängt. Kein Großreich hatte vor den Russen das schwer zugängliche und zerklüftete Gebiet je richtig beherrschen können. Niemals stand es wirklich unter persischer oder osmanischer Herrschaft. Aber auch innerhalb des Gebietes ließen die Täler keine großräumige Herrschaft zu. Die Täler blieben für sich, und auch in ihnen lag die faktische Macht bei den Oberhäuptern von Stämmen oder Sippen. Die Menschen lebten karg, ihre geistige Nahrung war seit spätestens dem 18.Jahrhundert fast durchgängig der sunnitische Islam. Das schuf zumindest zur Zeit des Ramadan und des Freitaggebets eine Gemeinsamkeit. Und wenn auch das ganze Gebiet von ständigen Blutfehden durchzogen war, wenn auch jeder seinen Nachbarn zum Todfeind hatte, so schloß man sich nach außen hin doch immer wieder zusammen. Alle befolgten schließlich den gleichen Familien- und Ehrenkodex. Man brachte sich gegenseitig um, ohne sich zu verachten. Diese Regel zu mißachten, verschaffte den Osseten, die teilweise sogar Christen in einer sonst rein muslimisch-sunnitischen Welt sind, ihre Sonderstellung und die Verachtung ihrer Gegner. Osseten galten als Kollaborateure mit Moskau. Das ist das einzige, was die Tschetschenen mit dem georgischen Diktator Gamsachurdia verbindet. Auch der neue Herrscher Tschetscheno-Unguschetiens, General Dudajew, kann mit ihm allenfalls eine Vernunftehe eingehen.

Die Tschetschenen, von denen es 1989 etwa 957.000 gab, von denen wiederum 77 Prozent in ihrer Autonomen Republik lebten, sind Teil der kaukasischen Sprach- und Völkerfamilie. Bei aller Sympathie und trotz einer langen Ehe können auch sie einander nicht leiden. Außerdem werden den Inguschen die Tschetschenen allzu übermächtig. Es ist daher jetzt nicht ausgeschlossen, daß die Inguschen sich mit der russischen Minderheit zusammenschließen.